Kapitel 22

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"Oma? War Papa wirklich Mamas erster Freund?", fragte ich vorsichtig, als ich mit meiner Großmutter beim Frühstück saß. Opa hatte das Haus bereits verlassen und war gerade dabei, die Blumen zu gießen.
Sie warf mir einen misstrauischen Blick zu. "Ja. Warum?"
"Weißt du es ganz sicher?", hakte ich nach, ohne auf ihre Gegenfrage einzugehen und trank den letzten Schluck Kaffee, der sich noch in meiner Tasse befand. In dieser Nacht hatte ich nicht nur zu wenig, sondern auch schlecht geschlafen. Zuerst hatte ich noch mindestens eine Stunde lang wachgelegen, weil mich die Gedanken an David, Yasmin, meine Mutter und Tristans Vermutungen nicht losgelassen hatten. Danach war ich mehrmals aufgewacht und schließlich um kurz nach acht Uhr aufgestanden, weil ich ohnehin nicht mehr hätte einschlafen können. Aus diesem Grund brauchte ich nun viel Koffein, um mich den Tag über fit zu halten. Zum Glück hatte ich meine Augenringe mit einer dicken Schicht Concealer überdecken können, sodass ich nicht ganz so müde aussah, wie ich eigentlich war.
Oma legte ihr Marmeladenbrot zur Seite. "Deine Mutter und ich hatten immer ein sehr gutes Verhältnis zueinander. Es gab kaum Dinge, die sie mir nicht erzählt hat. Ich denke also, dass ich mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, dass sie in ihrer Jugend keinen Freund hatte."
"Und später?"
"Wahrscheinlich auch nicht. Sie hat stets betont, dass ihre erste große Liebe auch die einzige sein wird. Ihr war dieser Vorsatz sehr wichtig und sie hat deshalb die Jungs und Männer alle abgelehnt", meinte sie mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. "Obwohl es durchaus einige gab, die mir sehr gut gefallen haben."
"Zum Beispiel?"
"Ein paar, die sie aus der Schule kannte, aber auch David hat sie gern gemocht."
Gern gemocht. Für den Brief, den er ihr geschrieben hatte, war dieser Ausdruck viel zu harmlos. Darin hatte es viel mehr danach geklungen, als ob er sie regelrecht vergöttere.
Aber immerhin war dies der Beweis dafür, dass das Dorf zwar von seiner Liebe zu meiner Mutter wusste, jedoch nicht ahnte, welches Ausmaß sie tatsächlich hatte. "David war in Mama verliebt?" Ich stellte mich dumm.
"Das würde ich eher als Schwärmerei bezeichnen. Möchtest du noch Kaffee?", fragte Oma und deutete auf die Kanne.
"Gerne." Zwar hatte ich schon über einen halben Liter davon getrunken, aber das Koffein erfüllte seine erhoffte Wirkung nicht ganz. Irgendwie fühlte ich mich noch immer etwas kraftlos und nicht dafür bereit, mich mit Tristan zu treffen. Er hatte mich nach Hause begleitet und wir hatten uns für den frühen Nachmittag verabredet. "David war eigentlich immer schüchtern, aber man hat sofort gemerkt, dass er sich sehr gut mit Yvonne verstanden hat. Er hat sie oft besucht, jedoch nur so viel, dass es nicht aufdringlich wurde", sagte Oma und goss mir noch etwas Kaffee ein.
Obwohl mir bei Omas Worten ein Stein vom Herzen gefallen war, hegte ich nun schon wieder Zweifel daran. Automatisch musste ich an meine Überlegungen denken. Entweder man verliebte sich in denjenigen, der einem einen solchen Brief schrieb, oder man fand es abstoßend. Doch Mama hatte David weder geliebt noch abgewiesen. Sie hatte trotz seines Liebesgeständnisses mit ihm Zeit verbracht. Und das, obwohl es mir in ihrer Situation sehr unangenehm gewesen wäre.
Alles erschien mir wieder einmal seltsam. Warum hatte meine Mutter nicht so reagiert, wie ich es an ihrer Stelle getan hätte? In meiner Anwesenheit hatte sie Männer, die versuchten, mit ihr zu flirten, sofort in ihre Schranken gewiesen und sie abblitzen lassen. Wieso war das nicht auch bei David der Fall gewesen?
Natürlich waren die beiden Sandkastenfreunde, doch das machte eine solche Aktion normalerweise noch viel unangenehmer.
"Also falls du dir Sorgen machst: Sie wollte immer nur deinen Vater, niemanden anderes. Die beiden haben sich sehr geliebt und es hätte kein besseres Paar geben können. Und dein Vater wird auch immer der einzige Mann im Leben deiner Mutter bleiben", meinte Oma und lächelte mir zu.
Vorsichtig lächelte ich zurück und knabberte an meinem Brötchen herum. Es beruhigte mich ein wenig, das alles zu wissen, aber es gab trotzdem noch einige Dinge, die ich nicht verstand und die ich vermutlich nur von meiner Mutter persönlich erfahren würde. Mama hatte tatsächlich einmal zu mir gesagt, dass Papa für sie immer der einzige Mann bleiben würde. Doch das war nun schon mindestens sieben Jahre her und es war schließlich gut möglich, dass sie ihre Meinung geändert hatte. Auch wenn das sehr untypisch für sie wäre.
"Warum möchtest du das alles wissen?", fragte meine Großmutter erneut.
"Ich will gerne mehr über unsere Familie erfahren", meinte ich, was nicht einmal gelogen war. Dass ich Tristan dabei half, den Mörder meiner Schwester zu finden, verschwieg ich lieber. Oma würde es ohnehin nicht gutheißen und mich ebenso wie Christel davon abbringen.
Dabei hatte ich mich besonders seit dieser Nacht von Tristans Tatendrang anstecken lassen. Die ganze Zeit war mir durch den Kopf gegangen, was passieren würde, wenn David tatsächlich derjenige war, der Yasmin umgebracht hatte. Was würde Mama nur dazu sagen? Und doch hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, dass David niemals einen Menschen töten könnte. Selbstverständlich war es lediglich ein schwaches Bauchgefühl, aber meistens stimmte es und hatte mich schon oft vor Entscheidungen bewahrt, die ich im Nachhinein sicherlich bereut hätte.
Oma seufzte. "Aber bitte lass die Vergangenheit ruhen. Die Toten sind tot und das wird sich nicht ändern."
Aber immerhin hatte ich meine Schwester und meinen Vater verloren. Hatte ich da nicht das Recht, mehr über sie zu erfahren? Yasmin hatte ich nie kennengelernt und auch an meinen Vater konnte ich mich nicht mehr so gut erinnern.
"Keine Sorge, ich will nur mehr darüber erfahren, wer sie eigentlich waren", beruhigte ich sie, obwohl meine Aussage nicht unbedingt der Wahrheit entsprach.
"Gut", meinte Oma und sah erleichtert aus. "Ich möchte nicht, dass das ganze Dorf wieder darüber spricht. Damals hat es uns alle sehr mitgenommen."
Das konnte ich mir sehr gut vorstellen. Vor allem nach dem Tod meines Vaters war sein Name bestimmt oft gefallen und sogar in den letzten Jahren hatte ich ihn während meiner Besuche hier ab und an gehört. Welche Kommentare man darüber machte, wollte ich gar nicht wissen.
Mein Blick fiel auf den alten Fotokalender. Man hatte vor fast siebzehn Jahren aufgehört, ihn umzublättern. Der September des Jahres, in dem Yasmin verschwunden war, zierte noch immer die Wand. Das Bild zeigte meine Schwester, wie sie mit einem Ball im Garten spielte und unbeschwert in die Kamera lachte.
Ich schluckte und sah schnell wieder auf meinen Teller hinab. Den Schmerz, den meine Familie durch Yasmins Tod hatte ertragen müssen, musste wirklich riesig gewesen sein. Keiner hatte sich vollständig erholt und ich konnte von Glück sprechen, dass ich mich nicht daran erinnern konnte und ihre Beerdigung nicht miterlebt hatte. Deshalb war ich vermutlich diejenige, die zwar manchmal beim Gedanken an meine Schwester Gänsehaut bekam und bei ihrem Namen des Öfteren zusammenzuckte, jedoch die Ereignisse aus relativ distanzierter Sicht betrachten konnte.
Erneut wanderte mein Blick zum Kalender und zu Yasmins lachendem Gesicht auf dem glänzenden Fotopapier. War sie wirklich aus Rache von David umgebracht worden?
Ich hielt es zwar für unwahrscheinlich, jedoch nicht für vollkommen unmöglich. Wer wusste schon, zu was jemand fähig sein konnte? Bis zur gestrigen Nacht hätte ich niemals gedacht, dass David meiner Mutter einen Liebesbrief geschrieben hätte. Vor allem nicht in einer solchen Sprache, mit der er jeden einzelnen Gesichtszug meiner Mutter bis ins winzigste Detail beschrieben hatte.
Doch trotzdem hatte meine Mutter ihn nicht geliebt. Zumindest wenn Oma mir die Wahrheit sagte. "Hattest du einen guten Draht zu Mama?", fragte ich sie.
Sie überlegte einen Moment lang. "Ja. Mit mir hat sie immer über die Dinge geredet, die sie bedrückt haben. Außerdem hat sie uns nie etwas verheimlicht und hat stets offen mit uns gesprochen."
Für einen Augenblick meinte ich, einen Hauch von Sehnsucht in den Augen meiner Großmutter zu entdecken und Mitgefühl keimte in mir auf. Nach dem Tod meines Vaters hatte Mama sich geschworen, das Dorf nie wieder zu betreten. Für meine Großeltern musste dies ein weiterer Schock gewesen sein. Schließlich verloren sie dadurch auch noch den kläglichen Rest unserer Familie. Obwohl wir uns manchmal trafen, hielt Mama trotzdem viel Abstand zu allem, was mit dem Dorf zu tun hatte. Folglich ebenso zu Oma und Opa.
"Ihr hattet also keine Geheimnisse voreinander", stellte ich klar.
"Nein. Deshalb hat es deinen Opa und mich so getroffen, als sie verkündet hat, mit dir wegziehen zu wollen. Wir hatten alle eine sehr enge Beziehung zueinander und plötzlich war sie einfach weg. Zusammen mit dir. Obwohl ihr die Letzten gewesen seid, die noch bei uns gewesen sind."
Langsam senkte ich den Kopf. Ich konnte wirklich verstehen, wie es sich angefühlt haben musste. Zwar gingen Mama und ich meistens unsere eigenen Wege, aber wenn sie mich auf einmal aus heiterem Himmel verlassen würde, wäre ich ebenfalls am Boden zerstört.
"Dafür bin ich ja jetzt da", meinte ich leise und lächelte Oma aufmunternd zu.
Sie seufzte. "Du bist die Letzte, die uns bis heute geblieben ist."

Als Tristan nach dem Mittagessen zu uns kam, hatte ich bereits viel über alles nachgedacht. Ich hatte meine Oma nicht weiter über Mama ausquetschen wollen, weil ich das Gefühl gehabt hatte, dass wir beide danach sehr bedrückt gewesen wären.
Stattdessen hatte ich Oma um ein Fotoalbum aus der Jugend meiner Mutter gebeten. Sie hatte mir sofort eines gegeben und ich hatte es mir in den folgenden Stunden sehr genau angeschaut. Dabei hatte ich versucht, mir vorzustellen, wie ihr soziales Umfeld ausgesehen und mit wem sie am liebsten ihre Zeit verbracht hatte.
"Das ist der Wahnsinn!", sagte Tristan, nachdem ich ihm von dem Album erzählt hatte. Dabei schienen seine Augen immer größer zu werden und er konnte es gar nicht erwarten, bis ich das Buch schließlich unter der Tagesdecke meines Bettes hervorzog.
"Vorhin habe ich es schon durchgeblättert", meinte ich und setzte mich auf den Boden. Dann schlug ich die erste Seite auf. Auf dem Foto dort musste meine Mutter etwa zehn Jahre alt gewesen sein. Vielleicht auch etwas älter oder jünger, genau konnte ich es nicht feststellen. Sie stand im Garten und hatte einen Strauß Feldblumen in der Hand.
Vorsichtig blätterte ich weiter, bis ich schließlich ein Bild fand, das sie zusammen mit ihren Freunden zeigte. Es waren zwar nicht alle, die David mir genannt hatte, aber ich konnte ihn, Pauline, Merle und Bernd entdecken. Alle standen brav nebeneinander und lächelten in die Kamera.
Die feinen Gesichtszüge meiner Mutter waren bereits klar erkennbar, auch wenn die Kurven ihren Körper zu diesem Zeitpunkt noch nicht geformt hatten. Trotzdem strahlte sie Selbstbewusstsein aus und zog die Aufmerksamkeit des Betrachters sofort auf sich.
Neben ihr stand Merle, die ihre Haare ordentlich zurückgebunden und die helle Bluse in den Hosenbund gesteckt hatte. Sie hatte sich deutlich verändert. Von der drahtigen Merle mit den raspelkurzen, karottenrot gefärbten Haaren keine Spur. Als hätte man in der Zwischenzeit einfach ihre komplette Persönlichkeit ausgetauscht.
Es war beinahe erschreckend. Die Ähnlichkeiten mit der heutigen Merle konnte man an einer Hand abzählen. Das Bild zeigte nicht die schusselige und fröhliche Merle, die ich kannte.
"Ist das Merle?", fragte Tristan und beugte sich näher über das Foto. "Man erkennt sie kaum."
"Da gebe ich dir recht", erwiderte ich. Die Bluse und die gerade geschnittene Hose, die sie trug, passten überhaupt nicht zu ihr. Ihre bunten Outfits und die löchrigen Jeans waren mir besonders in Erinnerung geblieben. Genauso wie die Hippie-Phase vor über fünf Jahren, als sie ihre Haare noch zu Rastalocken verfilzt und ihre T-Shirts selbst gebatikt hatte.
"Sie hat sich sehr verändert", bemerkte Tristan. "Ganz im Gegensatz zu deiner Mutter. Auf allen Bildern, die ich aus den Zeitungsartikeln von ihr gesehen habe, sieht sie ähnlich aus wie hier. Nur erwachsener."
Ich gab ein zustimmendes Geräusch von mir. Bernd hatte sich allerdings auch stark verändert. Man konnte seine Züge zwar gut erkennen, aber sein ganzer Körper war nun viel fülliger. Damals hätte man ihn als Bohnenstange bezeichnen können.
David und Pauline standen nebeneinander, die Arme umeinander gelegt. Damals hatten sie sich viel mehr in ihrem Aussehen geglichen, als sie es heute taten. Dieselbe Gesichtsform, die gleiche Nase und einen identisch geformten Mund. Anscheinend waren beide sehr gut miteinander ausgekommen, denn auch als ich weiterblätterte, sah man die beiden oft zusammen.
Manchmal zeigten die Bilder auch Mama und David allein und immer schienen sie sich gut zu verstehen. Sogar als meine Mutter in unser Alter kam und dies eigentlich der Zeitpunkt gewesen sein müsste, an dem David ihr seine Liebe gestanden hatte.
Doch auf den Fotos fiel mir keine Veränderung auf, die Freundschaft der beiden blieb weiterhin bestehen.
Aber wieso? Irgendwie musste sich ein solcher Brief doch darauf auswirken. Entweder positiv und die beiden waren ein Paar gewesen oder negativ und meine Mutter hatte Abstand von ihm genommen.
Warum zeigten die Bilder dann eine unveränderte Beziehung? Oder logen sie etwa und hinter den Fassaden hatte es tatsächlich gebröckelt?

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