Kapitel 12

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Douglas

Am Montag nach der Schule bin ich wahnsinnig nervös, denn ich werde Annes Eltern zum ersten Mal begegnen. Ich habe noch nicht viel über sie gehört, daher kann ich mir im Vornherein kein Bild von ihnen machen. Anne wohnt nur wenige Autominuten von der Schule und mir entfernt. Das Haus der Ogamis ist keines, was man wiedererkennen würde, wenn man keine besondere Bindung zu dessen Bewohnern hat. Als Anne klingelt, schlägt mein Herz so laut, dass es fast so ist, als könnte sie es hören, denn sie nimmt meine Hand. Eine Frau Mitte vierzig öffnet und strahlt mich an. Dann dreht sie sich um und ruft ins Haus hinein. „Komm her, Schatz, unser zukünftiger Schwiegersohn ist da!" Anne wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. „Kommt doch rein", sagt sie wieder zu uns gewandt. Im Flur stellen sich die Eltern vor. „Ich bin Susan." Annes Mutter reicht mir die Hand. „Und ich heiße Kenichi, aber du darfst gerne Ken zu mir sagen." Auch ihr Vater, der vermutlich vor nicht allzu langer Zeit von der Arbeit kam oder dort bald wieder hin muss, begrüßt mich freundlich mit einem Handschlag. Dann gehen wir ins Wohnzimmer, wo der Tisch bereits gedeckt ist. „Ich hoffe, du magst Hamburger", ruft Susan aus der Küche. Wir setzen uns und die ersten Minuten herrscht ein unangenehmes Schweigen. „Ihr Haus ist wirklich schön", sage ich schließlich, und meine es auch so. „Dankeschön. Kens Bruder hat einige der Möbel maßgefertigt, er ist nämlich Schreiner. Wohnst du weit von hier weg?", stellt Susan direkt die nächste Frage. Ich schüttle den Kopf. „Sunflower Street. Die Busverbindung ist ein bisschen blöd, aber mittlerweile habe ich ja meinen Führerschein." Ich bemühe mich, möglichst elegant von meinem Burger abzubeißen. Wie kommt man auf die Idee, beim ersten Aufeinandertreffen Hamburger zu machen? „Ach, du bist schon siebzehn?", hakt Ken nach. „Ja, seit Anfang November", antworte ich knapp, um mich wieder meinem Essen zu widmen. „Stimmt, Anne war ja auf deiner Party. Hast du Geschwister?" Annes Mutter lässt echt nicht locker. „Einen Zwillingsbruder." Wie kurz angebunden kann man antworten, ohne dass man unhöflich wirkt? Ich habe wirklich Hunger. „Das ist ja cool! Als ich jünger war, wollte ich immer eine Zwillingsschwester haben. Hast du Haustiere?" - „Mensch Susan, lass den Jungen doch mal in Ruhe essen!", unterbricht Ken seine Frau. Ich zwinge mich zu einem Lächeln. „Das ist doch kein Problem. Und nein, ich habe keine, aber mein Bruder hat zwei Papageien." - „Papageien also. Und die Leute denken immer, unsere Frösche wären außergewöhnliche Haustiere." Susan schaut kurz zu einem auf den ersten Blick leeren Terrarium hinüber. „Sie haben meiner Großmutter gehört, bis sie leider verstorben ist", füge ich hinzu, bevor sie auf die Idee kommt, ich könne diese Frösche streicheln oder auf die Hand nehmen. „Oh, das tut mir leid", entgegnet Ken sofort betroffen. Kurz ist es wieder still, bis Susan sich erhebt. „Da hätte ich doch glatt den Nachtisch vergessen." Sie steht auf und kommt mit einer großen Schale Pudding zurück. „Möchte jemand eine Portion?" Ich bin froh, dass alle bereits genug gegessen haben und Anne und ich endlich in ihr Zimmer verschwinden können. „Sorry, meine Mom ist manchmal ein bisschen nervig", entschuldigt sie sich sofort. Ich winke ab. „Ach, im Gegensatz zu meiner interessiert sie sich wenigstens für ihr Kind." - „Was ich mich schon immer gefragt habe: Bedenkt man als Zwilling eigentlich, dass einer von beiden nicht geplant war? Dadurch, dass du jünger -" Ich schubse Anne aufs Bett. „Sei leise!" Ich versuche ernst zu bleiben, aber in dieser Situation geht es einfach nicht. Es ist das erste Mal, dass Anne und ich einfach nur reden. Sonst waren wir essen, am Strand, haben zusammen gelernt oder Hausaufgaben gemacht. Es war meine Schuld, weil ich Angst hatte, wir würden ohne einen Anhaltspunkt wie das Essen oder den Lernstoff nicht ins Gespräch kommen. Aber im Gegenteil, wir reden viel offener über alles – von unseren Familien bis zu unserer hoffentlich gemeinsamen Zukunft. Bei dem Thema bleiben wir lange hängen, da es in unserem vorletztem Schuljahr um einiges wichtiger geworden ist als zuvor. Und das ist zugegebenermaßen ziemlich komisch. „Es ist krass", überlege ich, während meine Finger durch Annes Haare fahren. „Ich habe schon meinen Führerschein. In vier Jahren bin ich volljährig, in zwei Jahren gehe ich aufs College. Bis jetzt war das alles so etwas, wo sogar ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht habe. Und sobald man Junior ist, dreht sich alles darum." Anne nickt. „Ja, das stimmt. Man wird richtig überrannt von allen Seiten. Jeder schlägt dir was anderes vor bevor du überhaupt deinen Abschluss hast und irgendwann wünschst du dich in die Middle School zurück." Ich lache. „Middle School... das waren noch Zeiten." Kaum zu glauben, dass ich so einen Satz sage, obwohl dieser Abschnitt erst drei Jahre in der Vergangenheit liegt. Aber es ist ja auch einiges passiert seit der achten Klasse. 

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