Hauch eines Geheimnisses

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Alles ist schwarz.
Meine Augen sind verbunden.
Doch du bist da.
Nimmst mich an die Hand und führst mich.
Immer weiter.

Ich sehe nichts.
Habe keine Ahnung, wohin wir gehen.
Aber du schweigst.
Das konntest du schon immer gut.
Und ein Hauch eines Geheimnissen liegt in der Luft, kitzelt mir in der Nase.
Ich muss niesen.
Und höre dich kichern.

Wir sind da,
vernehme ich deine Stimme neben mir.
So nah und dennoch so weit weg.
Genau wie du.
Auch du stehst neben mir,
bist anwesend,
doch ich kann dich nicht greifen.
Immer wieder ziehst du dich zurück.
Immer wieder pralle ich an deinem Schutzwall ab.
Und ein Hauch eines Geheimnisses umgibt dich.

Ein Geheimnis, das ich so gerne lüften würde.
So viel würde ich geben, um dich verstehen zu können.
Doch zu ziehst mich einfach unerbittlich weiter.
Weiter in die Dunkelheit.

Doch wo Schatten ist, da ist auch Licht.
Und von Sonnenstrahlen geblendet schließe ich die Augen.
Kneife sie fest zu, und halte meine Hände vors Gesicht.
Du stupst mich an.
Vorsichtig.
Als könnte ich kaputt gehen.
Und zeigst nach oben.
Ein Baumhaus.
In der grünen Krone eines dicken Baumes.
Und ein Hauch eines Geheimnissen lässt mich erschaudern.

Fest ist das Baumhaus in den Ästen verankert.
Und dennoch weiche ich vor der Leiter zurück.
Ich kann das nicht,
höre ich mich sagen.
Aber du schüttelst den Kopf und verbesserst mich.
Du willst nur nicht.

Mit den Worten, dass es sich lohnen wird, schiebst du mich auf die Leiter zu.
Du stehst hinter mir.
Gibst mir Halt.
Einfach nur weil du da bist.
Und wenn ich abrutsche, dann fallen wir zu zweit.

Mit neuer Entschlossenheit erklimme ich die ersten Streben.
Ich kann mir deinen Gesichtsausdruck genau vorstellen.
Wie du die Mundwinkel nach oben ziehst.
Auf der linken Seite ein bisschen mehr.
Und wie du die Augen zusammen kneifst, weil du dich diebisch freust.
Schon wieder hast du mich manipuliert.
Könnte an dem Hauch eines Geheimnissen liegen, welchen ich in deiner Nähe immer verspüre.

Ich kenne dich schon so lange.
Doch verstanden habe ich dich all die Jahre nicht.
Du bist und bleibst mir ein Rätsel.
Aber ein wunderschönes Rätsel.
Und mit den Gedanken ganz bei dir, merke ich gar nicht mehr, wie ich immer höher steige,
der Boden sich immer weiter entfernt,
und die Welt immer kleiner wird.

Schließlich sind wir angekommen.
Oben.
Im Baumhaus.
Weit über dem moosbewachsenen Waldboden.
Es ist gemütlich.
Viele Decken und Kissen.
Und Bücher, die sich in den Ecken stapeln.

Bewundernd drehe ich mich um meine eigene Achse.
Doch das Strahlen in meinen Augen bemerkst du nicht.
Du hast mir den Rücken zugedreht, stehst am Fenster und blickst verträumt in die Ferne.
Und ich stelle mich neben dich und lehne den Kopf an deine Schulter.

Ich habe nie verstanden, warum du Alles gelassen siehst.
Warum du immer voller Ruhe bist.
Warum du nie aus der Haut fährst und stets sachlich und fair bleibst.
Ich konnte dein Handeln nie nachvollziehen.

Und ich weiß auch nicht, warum du so selten sprichst.
Warum du mir immer nur in poetischen Lebensweisheiten antwortest, wenn ich dich um Rat frage.
Aber in diesem Baumhaus ist mir etwas klar geworden.

Du hast das Leben begriffen.
Du weißt, dass man den Sinn nur dann findet, wenn man ihn nicht krampfhaft sucht.
Du bist anders.
Positiv anders.
Und der Hauch des Geheimnissen, das dich umgibt,
aus dem du bestehst,
greift auf mich über.
Du ziehst mich in deinen Bann.
Und obwohl du heute genauso wenig gesprochen hast wie sonst,
hast du mir mehr beigebracht, als man je in Worte fassen könnte.

Und dafür danke ich dir sehr.

Rêvasser - In Gedanken wo andersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt