Zum Nachdenken

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Seit Kindertagen glaubte sie daran, dass Menschen, die starben, uns nie verlassen würden. Sie glaubte, dass diese immer unter uns weilten, wir sie nur mit unseren herkömmlichen Sinnen nicht mehr wahrnehmen können.

"Hey, Grandpa.", sie lächelte, sah auf den dunklen Marmor vor sich, die geschwungene Schrift, die violetten Lilien, die das Grab schmückten.

"Wie geht es dir?"

Ihr Großvater war immer alles gewesen für sie, ihr Leben lang. Natürlich liebte sie ihre Eltern, aber ihr Großvater war besonders gewesen, sie liebte ihn anders.

Obwohl sie glaubte, dass er immer um sie war, hatte es doch etwas symbolisches, wenn sie an seinem Grab mit ihm sprach.

Sie kam immer hier her. Jeden Tag. Manchmal kam sie schon sehr früh, blieb auch lange, manchmal sah man sie erst sehr spät auf dem Friedhof und meist blieb sie dann auch nicht lange, aber sie kam immer.

Aber heute würde sie bleiben. Sie wusste noch nicht, wie lange, aber sie hatte viel zu erzählen.

Sie sah auf das Datum hinter dem goldenen Kreuz.

15. Februar 2013

Es war jetzt genau 3 Jahre her. Ihr kam es vor, als hätte sie erst gestern die erste Lilie auf sein Grab gelegt. Er hatte Lilien geliebt.

"3 Jahre schon...", murmelte sie.

Der Schnee glitzerte in der Sonne, es musste bald Mittag sein.

"Ich liebe dich, Grandpa. Das weißt du. Ich werde es immer tun."

Könnte sie ihn wahrnehmen, hätte er jetzt vermutlich genickt.

"Es ist schwerer, seit du nicht mehr wahrnehmbar bist. Es gibt so viele Momente, in denen ich mir nichts mehr wünsche.... als eine Umarmung von dir."

Ihr Blick glitt über den Friedhof, niemand außer ihr war hier, aber das war sie gewohnt, sie war stets die einzige.

"Es ist immer so einsam hier.", fuhr sie fort.

Ihr Lächeln erreichte ihre Augen nicht.

"Hast du eigentlich auch Probleme, wenn du so...unter uns bist? Vielleicht ist dir ja langweilig...", sie lachte, merkte wie ihre Wangen nass wurden.

Jede einzelne Träne wischte sie weg, lachte weiter, doch es wurden immer mehr.

Ihr Lachen erstarb.

"Ich kann nicht mehr, verdammt. Ich kann das einfach nicht mehr."

Sie fiel auf die Knie, schlug die Hände vors Gesicht, schluchzte.

Der Aufprall hatte geschmerzt. Aber nicht so stark, wie es in ihrem Inneren schmerzte.

"Ich bin kaputt, am Boden, aber du bist der einzige mit dem ich darüber reden kann, verstehst du?"

Sie schüttelte den Kopf, natürlich verstand er. Das hatte er immer.

"Alle kommen zu mir mit ihren Problemen, sie wollen, dass ich in ihren Streits vermittle. Sie regen sich über völlig nichtige Dinge auf, überhäufen mich mit ihren Problemen. Sie wollen Rat, wollen getröstet werden. Sie denken, ich bin stark, mir geht es gut. Aber so ist es einfach nicht. Wenn sie nur einmal richtig hinsehen würden, fiele ihnen auf, wie es mir wirklich geht. Aber sie wollen es gar nicht sehen."

Sie schluchzte auf, sie hätte jetzt gern seine starken Arme um sich. Sie wollte einfach nur gehalten werden.

"Weißt du...Sie wollen mir gar nicht zuhören. Meine Probleme sind egal. Dabei bin ich selbst völlig zerstört, habe so vieles schreckliches erlebt, was sie alle nie durchgehalten hätten. Ist es zu viel verlangt, dass sie einmal MIR zuhören, MICH trösten, halten, MIR Rat geben?!
Bin ich egoistisch, weil ich einfach nicht mehr kann? Weil ich gerade zerbreche, aber alle wegsehen, weil sie nur dann kommen, wenn sie etwas brauchen, Kummer haben?
Darf ich nicht auch mal Schwäche zeigen?"

War sie egoistisch? Sie wusste es nicht.
Aber eins wusste sie: Sie war kaputt, sie konnte nicht mehr länger für alle da sein, sie konnte das alles einfach nicht mehr verdrängen.

Sie ließ den Tränen freien Lauf. Es musste einfach heraus.

"Ich liebe dich, Grandpa! Ich wünschte, Du würdest mich jetzt in den Arm nehmen, für mich da sein. Den anderen kann ich einfach nicht zeigen, wie es mir geht. Ich muss für sie da sein."

Sie drehte die Lilie in ihrer Hand, welche bereits von ihren Tränen benetzt war.

"Ich muss jetzt gehen. Mom wartet, ihr geht es auch nicht gut. Ich muss ihr helfen. Machs gut."

Langsam stand sie auf, legte die Lilie auf die Erde und wandte sich ab.

Sie hatte das Gefühl, dass der Schmerz wenigstens etwas weniger geworden zu sein schien. Jetzt hatte sie wieder etwas Kraft, konnte für die anderen da sein.

Was hatte sie sich vorgemacht? Dass sie irgendwann allen die Wahrheit sagen würde? Dass es sie interessieren würde?

Sicher nicht.

Sie wischte die letzte Träne weh, betrat das Haus, setzte ein Lächeln auf und nahm ihre Mutter in den Arm.

Victimized by him (Sangster)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt