42. Die Flucht

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Abends liege ich noch stundenlang wach in meinem Bett.

Ich habe natürlich versucht zu fliehen, aber mein Dad besetzt den Gang und lässt mich nicht aus meinem Zimmer und mein Fenster ist ohne Dachrinne und auch noch viel zu weit oben.

Das frustriert mich einfach gerade alles ziemlich. Ich mag nur hier weg. 

Ich schwinge meine Beine wieder aus dem Bett und laufe langsam zum Fenster. Draußen ist es stockdunkel. Man merkt, dass der Winter kommt, obwohl es erst September ist. Aber, hey, wir befinden uns hier in England, ja?

Deprimiert starre ich hinaus und versuche etwas zu erkennen.
Zwei Lampen leuchten in unserem Garten.  Der Rasen ist also in ein dämmriges Licht gehüllt und ich meine, dass ich zwei Schatten sehen kann, die sich ganz weit hinten neben den Büschen bewegen.

Igitt, lass es nicht irgendwelche meiner alten Freunde sein, die gerade unseren Rasen entweihen oder etwas in der Art!

Ich schiebe angewidert den Gedanken beiseite und presse stattdessen meine Stirn gegen die Scheibe, um halbwegs gut nach unten spähen zu können.

So hoch ist es vielleicht doch nicht...

Vielleicht ist es ja doch möglich...irgendwie.

Mein Entschluss fällt innerhalb weniger Sekunden. Ich muss hier wieder weg, koste es, was es wolle.

Ich wirble herum und flitze zu meinem Kleiderschrank. So leise wie möglich öffne ich die wuchtigen Türen.

Ich ziehe eine Sporttasche, die ich so gut wie nie zuvor benutzt habe, ganz unten heraus.
Ich habe nicht viel Stress, es kann ja wohl niemand ahnen, dass ich lieber aus dem Fenster springe, als weiter eingepfercht zu sein.

Ich bedenke sehr lange, was ich mitnehmen soll. Die Tasche darf nicht zu schwer sein. Ich brauche wichtige Klamotten und etwas Geld.
Als wir am Bahnhof Stress bekommen haben, habe ich Chase heimlich noch mein Handy in die Tasche geschoben, weil dort wichtige Nummern wie die von Denise eingespeichert sind.

Ich entschließe mich vorallem für bequeme und notwendige Sachen, wie Jeans, Leggins, Shirts, Pullis und natürlich Socken und Unterwäsche. Doch natürlich kann ich es mir nicht nehmen lassen, auch eines meiner Lieblingsoutfits, das aus schwarzen HighHeels, einem schwarzen Rock und einer weißen Bluse besteht, einzupacken. Schließlich noch einigermaßen bequeme Schuhe, dann bin ich einigermaßen zufrieden.

Ich selbst kann natürlich auch nicht im Schlafanzug loslaufen und ziehe so schnell Leggins, ein schwarzen Oversize-Pulli und Adidas Superstar an.
Das ganze kostet wahrscheinlich mehr, als ich wissen möchte und ist viel zu teuer für so einen Fluchtversuch, aber ich habe einfach keine anderen Sachen.
Ich bin einfach viel zu sehr verwöhnt worden.

Ich seufze und fahre mir einmal durch meine Locken...Moment, Locken!
Ich brauche noch Shampoo und Duschgel! Hilfe!

Und schon düse ich weiter ins Bad und hole mir noch Kosmetikprodukte.

Dann bin ich wirklich endlich fertig.

Ich hebe vorsichtig die Tasche hoch. Sie ist überraschend leicht und das ist einfach das Beste, was mir so passieren kann.

Ich öffne das Fenster und es quietscht leise, was mich ziemlich zusammenzucken lässt. Es wäre der Albtraum, wenn ich jetzt erwischt werden würde. Doch keiner im Haus rührt sich.
Vorsichtig beuge ich mich über das Fensterbrett und spähe nach unten.

Nichts bewegt sich, die Luft ist rein.

So leise ich kann, hebe ich die Tasche hinaus und lasse sie dann einfach fallen.
Mehrere Meter unter mir kann ich hören, wie sie auf das Gras knallt.
Kurz schließe ich die Augen und bete einfach nur, dass das niemand gehört hat.

Doch wieder bleibt alles still.

Erleichtert atme ich auf und frage mich gleichzeitig, wie mein Vater so naiv sein kann, dass ich brav in meinem Zimmer bleibe.

Dann nehme ich allen meinen Mut zusammen und setze mich auf das Fensterbrett.
Vorsichtig schwinge ich meine Beine nach draußen und werfe dann einen letzten Blick in mein Zimmer.
Ich beuge mich mit dem Oberkörper zurück in den Raum und erreiche gerade so den Knopf, mit dem ich meine Nachttischlampe, die noch brennt, ausmachen kann.

Als auch das geschafft ist, wende ich mich meinem eigentlichen Problem zu.
Ich befinde ich mich sitzend auf dem Fensterbrett meines Zimmer im zweiten Stock und muss da jetzt runter springen.
Würde ich das Ganze überhaupt überleben?

Okay, Claire, du hast jetzt eh keine Wahl mehr. Da unten sind deine ganzen Klamotten und dein Geld.

Und damit springe ich.

Der Schmerz, der durch meinen Knöchel zuckt, ist weniger schlimm, als ich es mir vorgestellt habe, aber immer noch richtig richtig heftig.

Nur mit Mühe kann ich einen Schrei unterdrücken und stöhne so nur leise auf.

Langsam kann ich meine Gedanken wieder sammeln und schaue mich nach meiner Tasche um. Das Licht, dass diese Lampen spenden, ist kaum eine Hilfe beim Suchen einer schwarzen Tasche auf dem Rasen mittten in der Nacht im Schatten einer Villa.

Schließlich entdecke ich sie doch.

Ich schnappe sie mir und sprinte dann los zu der Hecke am Rande unseres Gartens. Dabei versuche ich, den unfassbaren Schmerz in meinem rechten Knöchel zu unterdrücken, was gar nicht so einfach ist. Vor allem, wenn man rennen muss.

Ich erreiche keuchend die Hecke und will mich an der entlang zu unserem Tor voranarbeiten, was bedeuten würde, dass ich dann frei wäre.

Und da spüre ich plötzlich etwas. Ein Arm, der sich um meine Hüfte legt, eine Hand, die meinen Mund verschließt.

Ich habe nicht mal mehr eine Chance auch nur irgendwie um Hilfe zu rufen.

A little bit Incredible♥Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt