Wir fuhren auf den großen Parkplatz vor dem Zentrum. Da Samstag war, fanden wir erst in der hintersten Reihe einen freien Platz.

„Mein Gott, als würde morgen die Welt untergehen", murmelte ich, als ich meinen Blick über die vielen Autos streifen ließ und geduldig wartete, bis Leo seine Parkscheibe eingestellt hatte.

Zusammen schlenderten wir durch die Einkaufspassagen. Vor einem Unterwäscheladen blieben wir schließlich stehen. Mein Bruder ging rein und besorgte, was er brauchte. Ich wartete draußen, da ich darauf verzichten konnte zu erfahren, was er unter seiner Jeans so trug, und sah mir die Auslagen der nächstgelegenen Schaufenster an. In einem entdeckte ich etwas, das mir gefiel: Eine dunkelblaue Röhrenjeans, ein Paar ungefähr 5 cm hohen High Heels, bei denen sich fünf breite, khakifarbene Riemchen über den Fuß zogen, ein schwarzes Oberteil, dessen Rücken nur mit Spitze bedeckt war und in der Hand der Schaufensterpuppe hing eine braune Lederjacke. Nachdenklich betrachtete ich das gesamte Werk. High Heels waren so gar nicht mein Fall, aber diese waren nicht allzu hoch. Ich stellte mir vor, wie ich wohl in dem Outfit aussehen würde. Als mein Blick jedoch auf mein Spiegelbild im Schaufenster fiel, schüttelte ich den Kopf. Das passte nicht zu mir. Ich trug alte, ausgelatschte Chucks, eine Bootcut-Jeans und ein türkisfarbenes Top, an dessen unterem Rand sich bereits ein Loch fand. Praktisch war es, mehr aber auch nicht.

„Hey, hier bist du", ertönte plötzlich Leos Stimme hinter mir.

Irgendwie fühlte ich mich ertappt und drehte mich schnell zu ihm um. Natürlich wusste Leo sofort, was los war. Er kannte mich manchmal einfach ein bisschen zu gut.

„Gefällt dir das?", fragte er neugierig und musterte seinerseits die Schaufensterpuppe.

Ja. „Nein. Hab's mir nur angesehen", log ich.

„Aha." Schmunzelnd sah mich mein Bruder an. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, war um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht, doch irgendwann musste ich selbst lächeln. Ich konnte einfach nichts dagegen tun. Für Leo war es ein Triumph und die Bestätigung seiner Vermutung.

„Komm, wir gehen mal rein", schlug er deshalb vor.

Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber noch bevor ich Einwände erheben konnte, zog er mich schon mit sich durch die geöffneten Ladentüren. Sofort kam eine Verkäuferin auf uns zu. Sie war hübsch, aber einen Tick zu stark geschminkt. Ohne das ganze Make-up würde sie vermutlich schöner aussehen. Ihre blauen Augen strahlten einen regelrecht an. Zuviel Kajal und Lidschatten zerstörten das Bild jedoch.

„Kann ich Ihnen helfen?", flötete sie in Richtung meines gut aussehenden Bruders.

Ein dickes Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. Ich wusste genau, dass er sich nicht für sie interessieren würde. Dafür waren ihre Haare zu blond, ihre Lippen zu rot bemalt und ihre Stimme etwas zu nervig hoch.

„Ja. Meine Schwester würde gerne die Klamotten anprobieren, die die Schaufensterpuppe ganz links anhat", erklärte mein Bruder höflich, jedoch ohne auf den Flirtversuch einzugehen.

Entsetzt stach ich Leo den Ellbogen in die Rippen. Ihn interessierte das nicht. Vermutlich hatte er es kaum bemerkt, so muskelbepackt wie er war. Sein hartes Training brachte eben viele Vorteile mit sich.

Die Verkäuferin wuselte durch den Laden und suchte die Sachen zusammen. Nach meiner Kleidergröße fragte sie nicht. Als ich zum anprobieren in der Kabine stand, wusste ich auch warum sie nicht gefragt hatte: Sie hatte es mit geübtem Blick gesehen. Eine Fertigkeit, die eine gute Verkäuferin ausmachen sollte. Jedenfalls nahm ich das an. Als ich das Outfit anhatte, betrachtete ich mich im Spiegel. Alles passte wie angegossen. Der Stoff schmiegte sich an meinen Körper wie eine zweite Haut. Eine kleine Stimme in meinem Inneren flüsterte, dass ich toll aussah. Mein Verstand brachte die Stimme jedoch erbost zum Schweigen. Die Sachen passten, aber es sah völlig ungewohnt aus.

„Komm schon raus, Lil", forderte mein Bruder, der ungeduldig vor der Kabine stand und wartete.

Unruhig fuhr ich mir durch die langen Haare. Als ich es nicht länger vor mir herschieben konnte, trat ich zögernd aus der Kabine. Mein Bruder und sogar die Verkäuferin lächelten mich an. Beinahe einstimmig sagten sie: „Toll!"

Unschlüssig drehte ich mich zu dem großen, golden gerahmten Spiegel.

„Meinst du?", fragte ich in Leos Richtung und zog ein paar Haarsträhnen aus der Jacke heraus.

„Auf jeden Fall. Haben Sie noch mehr, was in die Richtung geht?", wandte sich Leo an die Verkäuferin.

Sein Wunsch war ihr Befehl und schon zog sie los.

„Leo, ich kann mir das weder alles leisten, noch ist das mein Stil. Ich mach mich doch zum kompletten Idioten, wenn ich so draußen rumlaufe", meinte ich zu meinem Bruder, kaum das die falsche Blondine außer Hörweite war.

Leo war das wohl egal. Er schob mich zurück in die Umkleidekabine und reichte mir weitere Klamotten zum Anprobieren.

„Mach dir mal ums Geld keine Gedanken. Ich mach das schon."

Schön, dass wenigstens einer von uns das Ganze so gelassen sah.

The New MeWhere stories live. Discover now