1. Kapitel

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1. Kapitel - Die äußere Erscheinung

Beschuldige niemanden der Wankelmütigkeit, weil er sich zu seinem Vorteil verändert hat.

- Marcus Tullius Cicero

Ich erinnere mich, dass ich nie so sein wollte, wie alle Anderen. Nein. Ich wollte einfach nur besonders sein. Jemand, den man hübsch findet, vielleicht sogar schön. Jemand mit langem, gesundem Haar. Jemand mit makellosem Gesicht. Jemand mit einer tollen Figur. Jemand, mit dem man gerne befreundet wäre.

Nach 18 Jahren hatte ich die meisten dieser Dinge. Meine Haare waren lang und gesund, ich hatte eine tolle Figur - klingt eingebildet, aber manchmal darf man sich loben - und ein ebenmäßiges Gesicht. Ich fand mich auch nicht hässlich. Eher durchschnittlich. Freunde hatte ich auch. Zwar nicht viele, aber dafür gute. Keine falschen, die einen nur benutzen und dann wegwerfen wie ein benutztes Taschentuch. Also alles in allem hatte ich mein Ziel erreicht. Der einzige Haken? Meinen Style mochte nicht jeder. Das lag wohl daran, dass ich da eher praktisch veranlagt war. Ich meine, warum sollte ich auf zehn Zentimeter hohen Absätzen herumlaufen, wenn ich bloß mal eben zum Bäcker ging? Und in der Schule hatten solche Schuhe ohnehin nichts verloren. Früher wurde ich dafür gemobbt und das nicht zu knapp. Doch in dem Jahr, in dem ich 20 wurde, hat sich alles verändert.

Als ich mit der High School fertig war, pausierte ich zusammen mit meiner Freundin ein Jahr lang die Schule und reiste mit ihr durchs Land. Anschließend schrieb ich mich an einem College ein, an dem ich auch angenommen wurde. In den Sommerferien veränderte sich dann etwas. Mein Bruder Leo hatte nach langer Zeit wieder Heimaturlaub und ich genoss jede Minute mit ihm. Er war fast zehn Jahre älter und einen halben Kopf größer als ich. Meine Mutter sagte immer, ich wäre ein wundervoller Nachzügler. Mein Vater sah das ähnlich. Für ihn war ich seine kleine Prinzessin, obwohl ich mittlerweile, genau wie er, 1,80 Meter groß war. Aber manche Dinge ändern sich nun mal nie. Wie die Tatsache, dass er beim Militär war, genau wie mein Bruder. Allerdings saß mein Dad die meiste Zeit am Schreibtisch, während sie Leo immer wieder in Kriegsgebiete schickten. Vermutlich war das der Grund, weshalb ich jede Sekunde, die mein Bruder da war, so sehr schätzte. Mir war sehr bewusst, dass er eines Tages vielleicht nicht mehr wiederkommen würde. Ein Tag, vor dem ich mich immer gefürchtet hatte. Mein Bruder war ein Teil von mir. Ich konnte mir nicht vorstellen, irgendwann ohne ihn zu sein. Nicht für den Rest meines Lebens.

In der letzten Ferienwoche verkündete mein Bruder, dass er mich einfach in seinen Koffer packen und mitnehmen würde. Ich lachte, um meine Rührung zu überspielen. Gefühle zu zeigen, war in unserer Familie nicht unbedingt üblich. Leo und ich waren die Ausnahme. Er hatte immer auf mich aufgepasst und war da gewesen, wenn ich ihn brauchte. Unseren Eltern schossen in diesem Moment tatsächlich auch ein paar Tränen in die Augen. Bevor es jedoch zu sentimental werden konnte, schnappte mich mein Bruder und fuhr mit mir ins Einkaufszentrum.

„Ich brauche noch neue Unterwäsche", erklärte er, als wir auf den Highway fuhren.

„Zu viel Info", meinte ich nur.

„Wie geht es eigentlich Drew", erkundigte ich mich irgendwann.

„Ganz gut. Er ist froh, endlich wieder bei Julia zu sein", berichtete Leo.

„Kann ich verstehen. Julia hat ihn auch vermisst. Ständig in der Angst zu leben, dass der Mensch, den man am meisten liebt, nicht wieder zu einem zurückkehrt, macht das Leben nicht gerade einfach", bemerkte ich und musste daran denken, wie furchtbar es für mich selbst war, wenn Leo im Ausland war und die ganze Zeit ums nackte Überleben kämpfte.

„Jetzt sind wir ja wieder da."

Er grinste, sah mich aber nicht an, weil er sich auf den Verkehr konzentrieren musste. Um diese Uhrzeit waren die Straßen die Hölle. Überall hörte man Hupen und sah rote Lichter aufleuchten, ob nun von quietschenden Bremsen oder roten Ampeln. In solchen Momenten war ich froh, dass ich nicht fahren musste. Nicht, dass ich nicht gerne Auto fuhr, aber mir fehlte die Geduld für Staus und Verkehrsbehinderungen.

The New MeWhere stories live. Discover now