Kapitel 6

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Tarik", stotterte ich leise, als er näher an mich rückte. Plötzlich spürte ich seine Lippen meiner Wange vorbei streifen. Seine feuchten Lippen, er hauchte. Verdammt, ich geriet völlig außer Kontrolle und konnte nicht mehr mithalten. Sanft küsste er meine Wange und drückte noch einen Kuss an meinem Hals.
"April, April, naive Hayat", grinste er, während meine Gesichtszüge entgleisten.
Er nahm seine Hand von meiner Wange und entfernte sich von mir. Nachdem ich mich wieder sammelte, versuchte ich mich zu beherrschen, denn es war eine Art Korb für mich, ein Diss.
"Lass dir demnächst was besseres einfallen", versuchte ich auf seine Provokation nicht einzugehen und drückte gegen seine Brust, damit er mir Platz gewährt.
Er jedoch bewegte sich nicht, nein, er strich meine Strähne hinters Ohr und biss sich auf die Lippe.
Er brachte das Fass zum Überlaufen. Er brachte mich aus dem Konzept. Aber wieso verdammt? Er prüfte mich, doch so leicht wie er es sich dachte, war ich nicht. So leicht, mich zu beeindrucken war es nicht. Nicht mit mir.
Erneut drückte ich gegen seine Brust und zog arrogant eine Braue in die Höhe.
"Entweder du verpisst jetzt ganz schnell, ansonsten rufe ich die Polizei", kämpfte ich mich durch und ging in die Küche, da mein Blutdruck nachgelassen hatte.
"Und klingel nächstes Mal vernünftiger, ich dachte schon da ist irgendeine Pferdegeburt vor meiner Haustür", sprach ich ernst, doch lachte innerlich wegen meiner Wortwahl.
Er lachte kurz.
"Wo ist überhaupt Selma?", fragte er, als ihm bewusst wurde, dass sie ebenfalls hier wohnt, doch nicht anwesend war. Herzlichen Glückwunsch Tarik.
"Sie ist immernoch weg", schluckte ich meine fürchterliche Sorge herunter und zappelte herum. Ich müsste noch zur Polizei. Wieder. Im Dunkeln. Allein.
"Wie einfach weg?", fragte er unglaubwürdig.
"Ich war schon bei der Polizei. Sie haben ihre Daten und auch schon ein Foto. Ich weiß nicht, wann sie die Vermisstenanzeige veröffentlichen", fuhr ich mir nervös mehrmals über meine langen Haaren und geriet ins Schwitzen. Mir wurde innerlich schwer. Das Gefühl, sie stecke in Lebensgefahr, kam wie aus dem Nichts, hoch.
"Fährst du mich zur Polizei?", schoss hilflos aus mir. Wie ein kleines hilfloses Mädchen.
Er nickte verständlich und gab mir meinen Pullover. Plötzlich spürte ich seine Hand an meinem Rücken, als wir zusammen raus gingen. Als eine Art Stütze diente seine Hand an mir. Zum ersten Mal fühlte ich mich nicht allein, sondern hatte jemanden bei mir, der mich vor alles in der Welt schützen kann. Zum ersten Mal gehe ich mit einer Person raus, die ich kaum kenne und genau diese Person hilft mir.
Er fuhr los, während ich gedankenlos aus dem Fenster schaute und betete, dass man irgendeine Spur von ihr findet. Angekommen ging ich vor und sprach einen Polizisten an, der meinte, dass wir warten sollen. Also setzten wir uns ins Wartezimmer und warteten gemeinsam.
"Die haben bestimmt was", sagte er, doch stur schüttelte ich meinen Kopf.
"Sie würde niemals ohne mir was zu sagen gehen. Bei ihrer Familie ist sie aufjedenfall nicht, bei wem sonst sollte sie sein?"
"Ich dachte sie hätte die Nacht mal wieder mit jemanden geschlafen und vielleicht stimmt das auch. Wahrscheinlich hat er sie danach verschleppt."
Mein Kopf platzte vor Gedanken und die Tabletten für meine fürchtlich schmerzhafte Migräne lagen zu Hause.
"Frau Ates", hörte ich meinen Namen und stand auf. Zu schnell, denn mir wurde schwindelig, doch Zeit blieb mir dafür nicht, denn ich folgte dem Polizisten und Tarik hinterher.
In seinem Büro nahmen wir Platz.
"Ihr Parter?", sah er zu Tarik.
"Ihr Verlobter", sagte Tarik.
Gespielt lachend sah ich zu ihm. Was ein Idiot. Ich könnte ihm die Augen aufkratzen.
"Wir haben die Vermisstenanzeige bereits eingeschaltet. Viel tun können wir nicht, es sei denn, Sie hätten irgendwelche Neuigkeiten oder Informationen, die uns weiter bringen könnten."
"Sie hat einen Freund Harun", weiter kam ich nicht, da ich nachdachte, wie er wohl mit Nachnamen hieß.
"Harun Öztari", half mir Tarik auf die Sprünge. Er schrieb sich dies auf.
"Aber bei ihm ist sie nicht und Verdacht darauf, dass er was mit der Sache zu tun hat, hab ich nicht. Bei ihrer Familie ist sie ebenfalls nicht."
"Gibt es Konflikte zwischen ihr und ihrer Familie?"
"Ja, sie wurde von ihrer Familie mit 16 auf die Straße gesetzt."
"Haben Sie einen Verdacht, ob es weitere Personen gäbe, die was mit ihrem Verschwinden zu tun hätten?"
Plötzlich fiel mir der Treffen ein. Der Treffen, andem wir mit Drogen dealen wollten. Verdammt.
"Frau Ates?", sprach er erneut, als ich in Gedanken versunken war.
"Tarik geçen buluşma ne oldu?(Tarik, was ist mit dem letzten Treffen?)", fragte ich ihn auf türkisch.
Seine Augen vergrößerten sich. Er versetzte sich in meine Situation. Entweder würde er seine Freunde verraten oder auch seine Feinde. Er sagte nichts zu mir. Er schwieg.
Ich würde Tarik verraten.
"Mir fällt keine Person ein", schoss wie aus einer Pistole aus mir, viel zu schnell. Ich hatte gelogen. Gelogen, dabei ging es um Leben und Tod meiner Schwester.
Vom Blickwinkel sah ich ihn. Ich sah seine Blicke auf mir. Ich fühlte mich grottenschlecht und hoffte, dass ich mit dieser Lüge Selma nichts antue.
"Zumindest fällt mir persönlich grad keine Person ein."
Er nickte.
"Hat ihre Freundin Erkrankungen?"
"Sie hat eine Art Anfälle, weswegen ihr Herz belastet wird und sie Tabletten dafür nimmt, wenn es schlimm wird."
"Würden sie hier nochmal unterschreiben und ihre Daten eintragen? Wir werden Sie telefonisch benachrichtigen, sobald wir Hinweise finden werden. Machen Sie sich keine Sorgen", lächelte er ermutigend, doch mir war null danach. Ich nickte und ging, nach einem tschüss.
Es regnete draußen stark.
"Hayat warte mal kurz",hörte ich seine tiefe Stimme.
Als ich mich umdrehte, hatte ich ihn etwas weiter weg von mir erwartet, doch er stand dicht an mir.
Ohne jegliche Vorwarnung handelnd, unerwartet, verdammt plötzlich legte er seine unstillbar kräftigen Arme um mich und drückte mich an sich. Leicht hob er mich hoch, als ich meine Hände zu seinem Nacken wandern ließ und Geborgenheit suchte. Zweitens war ich etwas kleiner.
Fest drückte ich ihn an mich und verlor eine hauchdünne warme Träne, die an seinem Hals vorbei floss und ich Gänsehaut an seinem Nacken sah. Auch mir liefen kalte Schauer über den Rücken, denn so kannte ich ihn garnicht. Seine Lippen berührten meinen Nacken, ganz leicht, sodass ich eine Art Schock abbekam und die eisige Kälte immer stärker wurde, obwohl mir andererseits verdammt heiß war.
"Danke, echt. Du hast mich in Schutz genommen", hauchte er leise.
Ich nickte nur und versuchte mich zusammen zu reißen, denn der Gefühlschaos wurde immer negativer. Eine Art Sturm brodelte in mir auf.
Ich wollte mich erst garnicht von ihm lösen, denn er war perfekt gebaut. Er schenkte mir soviel Schutz, er schützte jedes Stück Haut mit dieser Umarmung. Doch da ich nicht allzu lang auf Zehenspitzen stehen konnte, musste ich mich gezwungenerweise von ihm lösen, doch er  legte einen Arm um meine Schulter und sah hinunter zu mir.
"Wein doch nicht", lächelte er kurz und wusch mit seinem Daumen über die Reste der vorherigen Träne.
"Die werden sie sicherlich finden. Ich sage meinen Jungs Bescheid, das sie auch ein Auge darauf werfen sollen. Ich denke, wenn Harun davon erfährt, wird er sie schneller als die Polizei finden", scherzte er und setzte mich ins Auto.
"Warte", hielt er mich auf und zog sich plötzlich seine Jacke aus, die einer Bomberjacke ähnelte.
"Zieh deins aus und zieh das an", gab er mir die Jacke, doch ich verneinte.
"Na komm jetzt. Morgen bist du sonst krank und dann muss ich Suppe machen und so", sagte er entsetzt und lachte, doch ich fand es nicht lustig. Er versuchte alles zu probieren, doch ich fühlte mich unwohl.
"Und jetzt langsam drehen", schmunzelte er, als er versuchte, mir seine Jacke anzuziehen.
"Bleib sitzen, ich komme okay?", kam er zu mir herunter und ich nickte. Es regnete so stark, ich war pitschnass. Tarik war weg, wo auch immer.
Nach zwei Minuten kam er auch, mit zwei Bechern in der Hand. Ich machte ihm die Tür von innen auf und sah seine Haare, die wegen dem Regen durcheinander hangen.
"Du magst bestimmt keinen Kaffe ne?", fragte er etwas verunsichert, was ungemein süß aussah.
"Nein und jetzt setz dich endlich. Morgen bist du sonst krank und dann muss ich Suppe machen und so", äffte ich ihm nach.
Lachend startete er den Motor und machte die Heizung an.
"Gehts jetzt?", sah er mich prüfend an. Ich hatte echt stark gezittert. Ich nickte und fühlte mich viel besser.
"Ich will Selma suchen."
"Hayat das geht nicht."
"Doch Tarik, wenn wir suchen würden?"
"Du verstehst das nicht. Die Bullen gehen der Sache viel besser nach. Es ist dunkel-
"Sowas von scheiß egal-
"Wir suchen sie morgen. Versprochen."
"Morgen frühs", sagte ich und stellte mich zufrieden, als er nickte.
Wir tranken die heiße Schokolade zu Ende und er fuhr mich nach Hause. Er wollte zur Sicherheit bleiben, doch ich gewann letzendlich die Diskussion und er ging, denn ich wollte allein sein, um alles zu verdauen. Ich stellte mich auf das Balkon und sah herunter zu ihm.
"Gute Nacht arrogante Rapunzel", rief er von unten.
"Gleichfalls Pferdegeburt", schrie ich zu ihm und musste lachen, als er charmant lächelte.
Der nächste Morgen stand an. Naja er stand irgendwie doch nicht an, denn um Punkt 8 Uhr klingelte es erneut ADHS gestört an der Tür, weswegen ich mich langsam aufrappelte und mit halb offenen Augen zur Tür latschte. Etwas gereizt öffnete ich diese und sah einen tip top gestylten Tarik vor mir, als ich oftmals blinzelte, um Umrisse zu erkennen.
"Tarik was?", fragte ich ihn, denn er sah mich nur von oben bis unten an.
"Nettes Outfit", kommentierte er meine Shorts und mein Schlabber-Shirt.
"Halt die Fresse", verdrehte ich meine Augen und setzte mich mit ihm ins Wohnzimmer.
Ohne zu fragen, ob er überhaupt in der Wohnung rauchen darf, zündete er sich seine Tabakdroge an und pustete den Rauch beinahe in mein Gesicht.
"Wie gehts dir?"
"Nein", sprach ich sarkastisch.
"Nein, einfach nein. Du stehst um Punkt acht vor meiner Haustür und fängst einen dummen Smalltalk an. Ich bin todesmüde. Du sagst mir jetzt was Sache ist, ansonsten siehst du mich bei 'Wenn Frauen töten' auf Super RTL", warnte ich ihn ernst und es war auch wirklich bedeutungsvoll gemeint.
"Ich wollte dich abholen, weil Abed verreist. Er wollte dich sehen."
"Wohin geht der?", wurde ich wacher, als er dies sagte.
"Er fliegt", korrigierte er mich.
"In die Türkei, Urlaub und so."
"Wann ist der nächste Flieger?"
"8:38 Uhr."
Meterbreit riss ich meine Augen auf.
"Das ist nicht dein Ernst", sprach ich unfassbar und fing an hektisch hin und her zu laufen, um mich einigermaßen schick zu machen. Es war schon seltsam, dass er nichts davon erwähnt hatte, dass er in die Türkei wollte. Ich würde ihn danach fragen, denn sonst würden ungewollt Konflikte erstehen. Nach dem Hin und Her war ich pünktlich los und wir fuhren Richtung Airport. Es war 8.26 Uhr.
Von Weitem sah ich ihn mit einem Koffer und einer Tasche, die er über die Schulter hielt. Er legte sie ab und legte stattdessen seine Arme um mich und küsste sanft meine Stirn.
"Kleines ich muss los."
"Aber wieso?", rutschte aus mir.
Wenn mir was auf der Zunge lag, dann musste ich es natürlich nachfragen. Das hasste ich an mir.
"Urlaub und paar geschäftliche Sachen erledigen."
"Für die Firma meines Onkels", ergänzte er, als mein Lächeln entging und ich wieder an den Drogenhandel denken musste.
"Ich komme in vier Woche. Hadi", küsste er zuletzt meinen Kopf und umarmte mich. Er bemerkte mein falsches Lächeln. Ich hatte das Gefühl, das es was anderes sei, aber naja. Auch Tarik nahm er brüderlich in den Arm und redete kurz mit ihm. Es war schwer mich von ihm zu trennen, doch in vier Wochen würde er hier sein. Das hoffte ich zumindest. Nachdem ich ihn erneut kurz umarmte und ihm zu winkte, als er ging, machten wir und auf dem Weg nach draußen, wo Tarik erst eine rauchte und es mich ungemein störte, wieso auch immer. Das er mich dauernd betrachtete, machte mich wahnsinnig und ich wollte nicht länger mit ihm bleiben, da ich ein mulmiges Gefühl bekam.
"Die Polizei hat mich angerufen", sagte er plötzlich, nachdem er die Zigarette zertrampelte.
"Was?", sprach ich mit halb geöffnetem Mund.
"Was haben sie gesagt?", fragte ich sofort danach.
"Sie liegt im Krankenhaus."
"Warum?"
"Anfall, sollen wir zu ihr?"
Rasch nickte ich und fing an mir Sorgen zu machen. Wieder hatte ich ein schlechtes Gefühl, obwohl ich endlich erfuhr, dass sie an einem sicheren Ort ist. Dieses Arschloch hätte es mir sofort sagen sollen und dann klang er auch noch so locker, während ich vor Sorge heulen könnte. Das Krankenhaus war nebenan. Ich fragte nach ihrem Namen. Zweiter Stock, 253.
"Merk es dir. 253", erinnerte ich ihn an die Zimmernummer und stieg mit ihm in den Aufzug. Ich hasste Aufzüge so sehr.
Angekommen sah ich die Zahl 249 und ging vier Zimmer weiter. Kurz klopfte ich und trat herein.
"Selma", atmete ich erleichtert aus.
"Du Hoe", ergänzte ich und nahm sie so fest in den Arm, wie ich nur konnte.
Ein kurzes Lachen ertönte von hinten.
Auch sie lachte und küsste mich tausende Male auf die Wange.
"Was sagst du mir nicht Bescheid? Ich war bei der Polizei, man das war Hölle!", wurde ich wütend.
"Ich hab mein Handy verloren", sah sie mich unschuldig an und machte mir Platz, damit ich mich zu ihr lege.
"Wo ist Harun?", fragte sie Tarik.
"Soll ich ihn rufen?"
"Ja, bitte", lächelte sie und grinste sofort.
"Tut mir echt Leid Canim", lehnte sie ihren Kopf an meine Schulter, als Tarik zum Telefonieren rausging.
"Ist schon okay. Geht es dir denn auch gut?"
Sie nickte und schloss ihre Augen.
"Du bist noch nicht ganz fit oder?"
Sie nickte wieder. Sie hatte irgendwas, doch ich verstand nicht ganz, was.
"Ich spreche mit Harun."
"Gleich?"
"Ja. Er hat Verdacht darauf und Beweise. Ich halte das nicht mehr aus."
"Soll ich dich allein mit ihm lassen, wenn er kommt?"
"Ja, aber komm am Abend. Ich erzähl dir, wie es gelaufen ist, aber es wird nur schief ablaufen."
"Denk nicht so negativ. Ich finde Harun-
"Er ist hier in der Nähe und kommt sofort", platzte Erdem rein und sah kurz zu mir.
"Ihr Turteltäubchen ist das Zufall, das ich euch immer zusammen sehe?",lachte Selma laut.
"Halt die Fresse", gab ich bissig von mir.
"Es ist Zufall", ergänzte ich dazu.
Dieses Mädchen wusste, dass ich Tarik nicht mochte. Sie war dabei uns zu verkuppeln, ich könnte ihr die Augen aufkratzen. Ein Lächeln schlich über seine rosa Lippen.
"Moin Freunde", hörte ich Harun.
Wir begrüßten Harun und ich stand auf. Ein kurzes Nicken zu Tarik, doch weil er zu dumm war, sah er mich fragend an. Er checkt auch echt nichts.
"Komm einfach mit", zischte ich und zog ihn am Arm.
"Bye ihr Beiden", grinste ich und ging mit Tarik heraus.
"Du hast so behindert geguckt, wie sollte ich das kapieren?", lachte er laut und drückte auf den Knopf im Aufzug. Plötzlich spürte ich meine Migräne, die anstieg und es Zeit wurde, eine Tablette einzunehmen.
"Ich hab mit meinen Augen zur Tür gedeutet, war so klar, dass du mich wie ein Esel angucken musstest und jetzt hau rein. Ich gehe nach Hause", sprach ich kühl, als ich aus dem Aufzug stieg und zum Haupteingang steuerte.
"Ich fahr dich, muss sowieso dort vorbei."
"Ich gehe noch einkaufen, also nein Danke", lächelte ich breit.
"Ich kann dich auch erst zu Rewe fahren. Komm doch einfach", sprach er gereizt.
"Dann fahr mich nach Hause. Der Teil mit Einkaufen war nämlich gelogen, um dich loszuwerden."
"Hexe."
Zusammen stiegen wir ein und ich drehte die Musik lauter, als One Dance von Drake ertönte. Leise summte ich mit und hoffte schnell anzukommen, da ich stärkere Kopfschmerzen als vorher hatte und es ohne den Tabletten echt nicht auszuhalten war. Angekommen sprang ich vom Sitz, winkte ihm kurz und verschwand, doch ich hatte Besuch. Cem stand da. Doch er stand nicht allein, nein, er hielt ein kleines Mädchen auf seinen Armen.
"Züleyha", flüsterte ich unfassbar und ging in langsamen Schritten, wie Richtung Ziel, auf sie zu. Mir kam es so vor, als ständen sie kilometerweit. Mit jedem Schritt brodelte es in mir, Feuer breitete sich aus. All die Scherben, all die Fragen, bildeten sich zu einem Puzzle. Meine Blicke stets auf das kleine Mädchen gerichtet, wie sie ahnungslos und unschuldig mit ihren großen, glänzenden Kulleraugen zu mir sah. Wie sie, wie jedes kleine Kind, mich so ansah, als wäre ich ein Fremde und sich innerlich fragt, wer ich sei. Kräftige Locken, die ihren kleinen Kopf umschmückten und sie unverschämt süß darin aussah.
Sobald in mir die Information gegeben wurde, dass ich dem Ziel angekommen sah, blieb ich versteinert vor dem Mädchen stehen, die mit mir in Augenhöhe war und mich analysierte.
"Züleyha", hauchte ich und verstand das Gefühlschaos in mir nicht. Sollte ich weinen oder lachen? Weinen, dass dieses unschuldige Wesen in so eine scheiß Familie geraten ist. Lachen, dass ich meine Schwester erst nach ein und halb Jahren nach ihrer Geburt sehe, geschweige denn die Schwangerschaft nicht mitbekommen hatte. Es war ein schöner Moment, doch ich konnte mich nicht freuen. Sie dürfte mich niemals kennenlernen, war das nicht der Plan meiner verabscheuenden Familie?
Ihr Kichern katapultierte mich wieder in die Gegenwart. Ich stand vor meiner Schwester.
Meine Blicke huschten verhasst zu Cem, der grinste. Er gönnte es mir nicht, er wusste, dass ich sie nach diesem Treffen nicht wieder sehen würde. Er wusste von meiner knappen Kohle, er wusste alles. Doch ein falsches Lächeln zierte meine mit Lippenstift bemalten Lippen und zeigten ihm stolz meine weißen Zähne.
"Sag mir, was willst du hier?", lachte ich, um ihm zu beweisen, wie egal mir das Mädchen auf seinen Arm ist, dabei würde ich sie so gern in den Arm nehmen und sie umarmen. Sie küssen und ihr sagen, dass ich ihre große Schwester bin.
"Dir deine Schwester vorstellen Hayat", grinste er weiterhin provokant, was mir innerlich die Seele heraus riss. Ich hasse ihn, ich wünsche ihm nur Pech.
"Ich hab sie gesehen. Du kannst jetzt ruhig gehen, ich will durch."
Jede Sekunde nutzte ich aus, um das kleine Geschöpf zu beobachten. Sie war meine Kopie, meine Augen, meine Nase, meine Lippen und meine Augenbrauen. Genau so sah ich als kleines Kind aus und auch jetzt ähnelte sie mir.
Ich senkte meinen Kopf, als sie mir wieder tief in die Augen sah. Ihre Augen töteten mich innerlich. Sie war so rein.
"Stell dich nicht an Hayat. Willst du nicht Zeit mit ihr verbringen?"
Ein lächerliches Gesichtsausdruck schoss in die Höhe.
"Was geht in dir ab? Wolltet ihr sie nicht von mir fernhalten?", sah ich ihn dämlich an.
"Meine Eltern, ja. Ich denke du solltest die Gelegenheit haben, sie ein wenig kennenzulernen. Du bist ihre Schwester."
Es stimmte etwas nicht. Es machte Klick. Er musste wohl auf die Kleine aufpassen und dreht sie mir an, um seine scheiß Geschäfte zu erledigen. Um seine Sünden zu vergrößern.
Mein Kopf schüttelte sich automatisch.
"Lass mich jetzt endlich durch, du verschwendest meine Zeit."
Mit Kraft versuchte ich mich an ihn vorbei und schaffte es auch.
"Du lässt dir grad die größte Chance deines Lebens ergehen. Du wirst sie nie wieder mehr zu Gesicht bekommen, sie hat dir nichts angetan."
Abrupt blieb ich stehen und traute mich nicht meinen Rücken zu ihm zu drehen. Die Kraft, den Schlüssel zu drehen, fehlte mir.
"Wieso lässt du sie hier? Gehst du wieder zu deinen möchtegern Kriminellen? Gehst du wieder deinen Vergnügen mit Frauen haben?", zischte ich laut durch das Treppenhaus und bereute es, als die Kleine zusammenzuckte.
"Was bist du mir dauernd hinterher? Ich fand es angenehmer, dein Gesicht nicht zu sehen du Bastard."
"Ich hole sie in zwei Stunden ab. Bis dahin werde ich weder meinen Spaß mit Nutten haben, noch irgendwas kriminelles machen. Viel Spaß mit deinem vertrauten Feind."
Unerwartet hielt er sie meinen Armen entgegen und schon war sie in meinen Armen. Die Tasche legte er auf dem Boden und ging. Fassungslos sah ich ihm hinterher. Wieso tat er das? Was war wichtiger, als die Schwester bei seiner Feindin zu lassen? Wo waren überhaupt meine Eltern, das er sie ausgerechnet bei mir lässt? Irgendwie schaffte ich es mit ihr auf dem Arm und der Tasche die Tür aufzubekommen und lies die Tür hinter mir zuknallen. Züleyha legte ich auf der Couch ab und kniete mich zu ihr herunter. Sie wirkte nervös, fühlte sich nicht wohl, doch weinen Babys nicht, wenn sie bei Fremden sind?
"Kannst du schon gehen?", fragte ich sie und stellte sie auf dem Boden. Langsam bewegte sie ihre Beinchen vorwärts, doch konnte ihren Gleichgewicht noch nicht ganz halten, weswegen ich sie auffing und sie wieder absetzte. Mit voller Vorsicht zog ich ihr die Jacke und Schuhe aus. Sie sah mich zuckersüß an, ich wollte sie küssen, doch die Angst stieg. Vertrauter Feind.
Ihre kleine Hand hielt einen Finger von mir fest und versuchte es in ihren Mund zu führen. Ich vermutete, dass sie Hunger hatte, doch ist es nicht Standard, als Kind Sachen in den Mund zu nehmen? Kurz überlegte ich, was ich mit ihr tun soll. Sie war so wunderschön, das Gesicht eines Engels. Überraschenderweise füllten sich meine Augen. Mit einem Ruck zog ich sie zu mir auf meinem Schoß auf dem Boden und drückte sie fest an meine Brust.
"Züleyha verdammt, wo warst du nur?", flüsterte ich und schluchzte quer durch die Wohnung. Es verletzte mich so dermaßen, von ihr so spät erfahren zu haben.

Verliebt in ein VerbrecherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt