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Mein Wecker klingelt wie jeden Tag um halb sieben in der Früh und reißt mich grob aus dem Schlaf.

Eine halbe Stunde für das Herrichten, eine weitere für das Frühstück und ein paar Minuten Fußmarsch.

Jedoch bleibe ich liegen und presse meine Augen fest zusammen, während ich mein Gesicht in mein Kissen vergrabe.

Ich habe Angst. Und ich möchte um alles in der Welt daheim bleiben, mich für immer unter meiner Bettdecke verkriechen.

Ich male mir die Szenarien aus, die passieren könnten, wenn ich jetzt auf dem Pausenhof auftauche und sie werden immer brutaler.

Ich atme einmal tief ein und aus und lege mich auf den Bauch. Es würde einige Minuten dauern, bis meine Mutter merken würde, dass ich nicht wie gewohnt aufstehe und mich auf den Schultag vorbereite.

Ich zähle die Sekunden, höre meine Familie draußen erfreut in der Küche plappern.

Nach einer gefühlten Ewigkeit höre ich dann die Schritte meiner Mutter auf der Treppe und das leise Quietschen meiner Tür.

"Adina, Schätzchen? Du hast verschlafen", sagt sie etwas lauter, da sie anscheinend annimmt, ich würde noch schlafen.

Ich schüttele leise den Kopf und öffne die Augen. Meine Mutter steht stirnrunzelnd in der Tür und sieht mich verwirrt an.

"Mir geht es nicht wirklich gut, Mum. Ich bekomme bald meine Tage und ich denke, das kommt davon. Ich habe totale Kopf und Bauchschmerzen", lüge ich und presse mir noch die Hand an den Bauch, um glaubwürdiger rüber zu kommen.

Die Verwirrtheit verwandelt sich in Besorgnis und meine Mutter tritt einen Schritt näher an mein Bett. "Oh, du Arme. Ich bringe dir eine Tablette, dann kannst du ohne Schmerzen gehen", versucht sie mich aufzumuntern, doch der Schuss geht nach hinten los.

Mein Herz fängt an zu rasen und ich bekomme das Gefühl, dass ich keine Luft mehr kriege. Eine Panikattacke hatte ich noch nie zuvor in meinem Leben, weshalb ich mit dem neuen Gefühl nicht richtig umzugehen wusste, mich aufsetze und hektisch damit beginne, nach Luft zu schnappen.

Die Augen meiner Mutter weiten sich und sie greift mir an meine Schultern.

"Adina, was ist denn los? Was zur Hölle ist in dich gefahren?", sie sieht mich hilflos an.

"Atme ruhig. Ein und aus", versucht sie mich zu beruhigen, und ich bin den Tränen nahe.

Sie mustert mich, als ich mich wieder langsam in mein Kissen sinken lasse und mir die Hand auf die Stirn lege.

"Vielleicht solltest du daheim bleiben. Ich rufe den Arzt an und mache einen Termin für dich aus. Das kann doch nicht normal sein."

Ich nicke langsam und mein Puls normalisiert sich wieder. Alles in meinem Kopf dreht sich darum, dass ich nicht in die Schule muss.
Eine riesige Last fällt mir vom Herzen.

Ich höre, wie meine Mutter mein Zimmer verlässt, doch es kommt mir so vor, als würde ich in einer riesigen Seifenblase sitzen und es nicht wirklich mitkriegen, was in der Außenwelt passiert.

Alles dreht sich nur darum, dass ich nicht in die Schule muss.

//

Ich lächle die Arzthelferin an, nicke ihr zu und mache mich auf den Weg in das Wartezimmer, welches ausnahmsweise nicht so voll ist, wie man es sonst von Wartezimmern gewohnt ist.

Langsam lasse ich mich auf einen unbequemen Stuhl nieder und verschränke meine Beine übereinander. Krampfhaft überlege ich, was ich dem Arzt sagen soll, damit meine Simulation nicht auffällt und ich sogar noch eventuell eine Krankschreibung ergattern kann.

Mit zitternden Händen taste ich nach meinem Handy, welches in meiner Jackentasche steckt.

Es ist wie ein unkontrollierbarer Zwang und ich habe minütlich den Drang dazu, zu gucken, ob ich neue Nachrichten erhalten habe.

Doch seit gestern kommen nur noch wenige Kommentare dazu, die zwar genauso schlimm sind wie die anderen, aber langsam nachlassen.

Wieder klicke ich auf die Facebook App und aktualisiere.

Keine neuen Benachrichtigungen, keine neuen Kommentare und somit keine neuen Beleidigungen - dafür aber ein neuer Post.

Wieder von Ray gepostet.

Verwirrt klicke ich das Video an und mir stockt kurz darauf der Atem.

Kurz wackelt die Kamera wie bei einem unprofessionellen Amateur und wird dann schließlich auf eine kleine Gruppe von Personen gerichtet. Um sie herum steht gefühlt die halbe Schule.

Man erkennt Ray sofort, der alles dafür tut, um im Mittelpunkt zu stehen.

Ich versuche etwas mehr zu erkennen, doch die Videoqualität ist unglaublich schlecht. Erst, als die Gruppe sich ein wenig weitet, erkennt man eine weitere Person, die hilflos mit hängenden Schultern in der Mitte steht.

Ich erkenne Colin an seinen Schuhen.

Ray sagt etwas zu ihm, weshalb er seinen Blick anhebt und ihn feindseelig ansieht, jedoch aber nicht zu sagen scheint. Den Ton habe ich ausgestellt, aber ich kann mit allzu gut das Geschrei der anderen Mitschüler, welches alles übertönt, vorstellen.

Nach wenigen Minuten hebt Ray plötzlich seine Faust und trifft Colin direkt im Gesicht. Ich atme erschrocken die Luft ein und mein Herz macht einen Hüpfer, als er zurücktaumelt.

Es scheint sowas wie ein Startschuss gewesen zu sein, denn die anderen beginnen nun, den orientierungslosen Colin, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Wange hält, hin und her zu schubsen.

Immer mehr Fäuste schlagen schließlich auf ihn ein, bis er langsam zu Boden geht, ohne sich ein einziges Mal gewehrt zu haben. Auch, wenn die Leute etwas weiter weg stehen, sieht man das Blut, welches aus seiner Nase fließt.

Schnell schalte ich das Video aus, als ich den Tränen wieder nahe bin. Die Kommentare unter dem Video sind noch widerlicher als die, die ich bekommen habe und ich schalte schnell mein Handy aus, um es nicht mehr sehen zu müssen.

Während mein Name aus den alten Lautsprechern ertönt und ich ins Behandlungszimmer gerufen werde, steigt in mir ein neues Gefühl auf.

Unbändiger, unglaublich großer Hass.

Break upWo Geschichten leben. Entdecke jetzt