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Ich zog meine dünne Lederjacke an. Auch wenn es nach einer Weile sehr warm werden würde, die ersten und letzten Nächte waren immer zu kalt ohne Jacke.

Ich nahm meinen vollgestopften Rucksack. Desto mehr Ballast man mit sich trug, umso schwerer war es wegzulaufen. 

Ich teilte mir das kleine Zimmer mit meiner Schwester. Ich hatte nur mein Bett und einen Schrank, in dem nie wirklich viel drin war. Aber mehr brauchte ich auch nie. Meine Schwester hatte alle möglichen Spielzeuge aus Holz. Ein paar davon habe ich ihr gemacht. Kleine Mademoiselle, so nannte sie das Püppchen immer, war das erste, was ich für sie gebastelt habe. Es war ihre Lieblingspuppe gewesen. Sie lag auf Auroras Bett. Ich hob sie auf und verließ unser Zimmer.

Aurora stand unten neben unserem Vater an der Tür. Sie hatten beide ihre Rucksäcke auf dem Rücken und warteten nur noch auf mich. Der Rucksack meines Vaters war ungefähr dreimal so groß wie Auroras. Sie hatte ihr langes braunes Haar geflochten und schaute mich mit ihren großen braunen Rehaugen an.

„Du hast was vergessen." Ich reiche ihr das Püppchen.

„Ich will das sie hier auf mich wartet."

„Wieso das?"

„Sie soll auf unser Haus aufpassen, so lange wir weg sind." Sie war so naiv. Aber ich musste trotzdem lächeln. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir zurückkamen, war nicht sehr hoch.

War sie nie.

„Nimm sie mit. Sie muss nicht auf das Haus aufpassen." Ich ging vor ihr in die Hocke. „Besser sie passt auf dich auf, Rehlein." So nannte ich sie immer wegen ihrer großen braunen Augen. Sie hatte sie von unserer Mutter.

Aurora lächelte und packte die kleine Mademoiselle brav in ihren Rucksack. Ich nahm meine kleine Schwester in den Arm.

Sie hatte keine Angst. Jedenfalls nicht so viel wie ich. Bei ihrer letzten Jagdsaison vor fünf Jahren war sie drei. Sie erinnerte sich kaum noch dran. Sie hatte den Anblick verdrängt, wie wir unsere Mutter verloren.

Ich nicht. Ich träumte jede Nacht davon.

Ich hatte keine Angst davor, genau wie sie eingefangen zu werden. Ich hatte keine Angst davor zu sterben. Ich hatte Angst davor, dass ich mit ansehen müsste, wie sie Aurora einfingen. Das würde ich niemals zu lassen.

Bei ihren braunen Augen hatte man immer das Gefühl, sie könnte einem direkt in die Seele gucken. Ich lächelte sie aufmunternd an und hoffte, dass sie nicht meine Gedanken lesen konnte.

„Wir sollten endlich los", sagte unser Vater ungeduldig. Er hatte Recht. Jede Sekunde war wertvoll.

Er schloss die Tür hinter uns. Doch er schloss sie nicht ab. Es hätte keinen Sinn gemacht. Hannah stand mit ihrer Familie vor dem Haus. Sie warteten auf die Ganders mit denen sie zusammen fliehen wollten.

„Adam!", reif Hannah mir hinterher.

Ach, verdammt.

„Wo werdet ihr diesen Sommer hingehen?"

„Wir wollen in den Süden", antwortete mein Vater für mich. „Und wir sollten uns langsam wirklich beeilen. Viel Glück euch, Hannah."

„Danke. Euch auch."

Ich hielt dieses ‚Viel Glück' für dermaßen unnötig. Als hätte Glück irgendwas damit zu tun, ob du den Sommer überlebst oder stirbst.

Ich nahm Aurora's Hand.

Manche hatten Pferde. Aber die meisten mussten wie wir zu Fuß gehen.

Ben hatte uns mal von ‚Autos' erzählt. Aber die waren im Wald wohl mehr als unpraktisch.

Wir verließen unser kleines Dörfchen mitten im Wald. Es waren nur 5 Hütten, auf die sich 45 Leute aufgeteilt hatten. Früher war hier nur eine Hütte gewesen. Die von Ben und Rita. Doch als die Menschen in die Wälder flohen und es in ihrer kleinen Hütte zu voll wurde, bauten wir mehr. Meine Eltern kamen erst kurz vor meiner Geburt hier her. Nach jeder Jagdsaison kamen wir hierher zurück. Und die anderen von hier, die den Sommer überlebten, ebenfalls.

Es war unsere Heimat. Wir waren hier aufgewachsen.

Ich drehte mich ein letztes Mal um und hoffte mit meiner Schwester an der Hand zurück zu kehren.

„Adam?", fragte sie mich, „Wie lange dauert diese Reise?"

Rehaugen (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt