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>>„Spielst du mit mir Verstecken, Adam?" Das fragte sie mich schon zum dritten Mal.

„Ich habe dir doch schon gesagt, dass wir packen müssen, Aurora."

„Ja ja." Na toll, jetzt war sie wieder eingeschnappt und schmollte die nächsten drei Stunden. Nicht sehr produktiv, wenn man unter Zeitdruck steht. Ich beugte mich zu ihr herunter.

„Wir spielen ein anderes Mal wieder, ok?" „Na gut", antwortete sie mies gelaunt und packte weiter ihren Rucksack. Das war eine Lüge, aber das sollte sie erst später erfahren.

„Papa?", rief ich.

„Ja", kam es aus der Küche. Ich lief zu ihm runter.

„Wie weit bist du mit dem Obsteinlegen?"

„Es ist fast fertig. Wie gesagt, es würde sehr viel schneller gehen, wenn du mir helfen würdest." Er war gestresst. Das merkte man ihm immer sofort an.

„Ich packe gerade deinen Rucksack."

„Du weißt, pack nicht zu viel ein ..."

„... im Sommer brauchen wir eh nicht viel. Lass lieber Platz für Wasser und Nahrung. Ich weiß. Ist nicht mein erstes Mal", betete ich seine Predigten hoch und runter.

Er schaute mich traurig an. Er war noch nicht mal 50 und sah schon so alt aus. Die Sorgen und der Kummer hatten Spuren bei ihm hinterlassen.

„Aber es ist das erste Mal ohne deine Mutter." Wieso musste er mir jetzt mit der Scheiße schon wieder kommen? Als ob es das leichter machen würde.

„Ich geh Ben nach Trockenfleisch fragen." Ich lief aus unser kleinen Hütte, die wir uns noch mit Hannahs Familie teilen mussten, weil im Dorf kein Platz mehr war. Seit Hannah mit ihrer Familie hier aufgetaucht war, himmelte sie mich an. Man könnte das niedlich nennen, aber es ist ziemlich nervig, wenn so eine kleine 15-Jährige einem einfach nicht von der Pelle rücken wollte.

Ben war unser Dorfältester. Er und seine Frau waren beide schon über 70 Jahre alt. Er war einer der wenigen hier, der sich noch an die Zeit erinnerte bevor die Besetzer kamen und die Erde einnahmen. Er erzählte uns oft davon, wie die Welt früher war und wie die Menschen damals gelebt haben. Von ‚Fernsehern' und ‚Computern' und ‚Handys'. Zeug was für uns alle unvorstellbar war. Und so spannend es auch klang, manches schien in meinen Ohren unnötig.

Ben erzählte uns nicht nur von der Technologie, sondern auch von geschichtlichen Ereignissen und ganze Filme. Manchmal sang er auf seiner Gitarre auch Lieder aus dieser Zeit.

Manche Erwachsenen sagten ihm, er solle endlich aufwachen und nicht länger in der Vergangenheit leben, doch zu unserem Glück hörte er nie auf sie.

„Hallo Ben", grüßte ich ihn.

„Adam, wie geht es dir, mein Junge?" Alle mochten Ben und seine Frau Rita. Sie waren wie die Großeltern, die fast niemand hier mehr hatte.

„Gut gut, und euch?" Rita kam mit einer Kiste herein.

„Wir können uns nicht beklagen." Er lächelte immer. Und das obwohl er und seine Frau ihren einzigen Sohn überlebt haben. Er starb vor vielen Jahren genau wie meine Mutter während der Jagdsaison.

Rita stellte die Kiste auf den Küchentisch. „Du bist doch bestimmt deshalb hier, nicht wahr mein Junge." Sie öffnete die Kiste, die voller Trockenfleisch war.

„Ja, ich hätte gern etwas für meine Familie."

„Nimm dir so viel, wie du brauchst." Diese Antwort macht es einem immer so schwer überhaupt etwas zunehmen. Wann ist man zu gierig und wann zu schüchtern? Wir brauchen unbedingt was, aber ich will ihnen und den anderen Dorfbewohnern ja auch nicht zu viel nehmen. So wurden wir nicht erzogen. Wir lernten von klein auf zu teilen und zu helfen. Ben sagte manchmal, dass das viele Menschen früher nicht konnten.

Ich nahm eine Handvoll von dem Trockenfleisch und packte es in einen Beutel, den ich bei mir trug. Ich wollte mehr nehmen, aber ich traute mich nicht. Gott sei Dank, nahm Rita mir diese Entscheidung ab.

„Ist das schon alles? Damit überleben deine Schwester, dein Vater und du doch niemals den Sommer. Warte ich hole dir ein Glas."

Sie ging zur Vorratskammer. Ben zwinkerte mir zu.

Seine Frau kam nicht nur mit einem, sondern mit zwei Gläsern zurück und stopfte sie so randvoll mit Trockenfleisch, dass kein bisschen Luft mehr drin war. Ich lächelte verlegen.

Rita's Essen schmeckte eh immer am besten. Sie war früher auch Köchin gewesen und Ben Tischler. Er hatte mir schon, seit ich klein war, vieles beigebracht. Ich blickte zu ihm auf.

„Kommt ihr dieses Jahr mit uns mit?" Im Stillen hoffte ich, dass sie nein sagen. Und dafür schämte ich mich sofort. Doch manchmal kam es eben auf Schnelligkeit an und das waren sie mit über 70 schon lange nicht mehr.

„Nein, wir werden hierbleiben." Ben lächelte noch immer. Mir verschlug es allerdings die Sprache.

„Hier? Aber es sind nur knapp 20 Kilometer bis die nächste Stadt anfängt. Sie werden hier mit Sicherheit vorbeikommen."

„Das wissen wir. Aber wir sind zu alt geworden um wegzulaufen. Wir werden uns hier verstecken und das beste hoffen." Ben legte seinen Arm um seine Frau. Er guckte sie mit dem selben Blick an, den mein Vater auch immer bei meiner Mutter hatte.

„Wann macht ihr euch auf den Weg?" „Heute Nachmittag."

„Ach schon heute? Nun, dann wünschen wir euch einen ruhigen Sommer und dass ihr wohlbehalten wieder zurückkommt." Ich umarmte Ben und Rita ein letztes Mal, bevor ich die Gläser nahm und ging. Ich sollte die beiden nie wiedersehen.

Rehaugen (Band 1)Where stories live. Discover now