Kapitel 62

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Kapitel 62

Arda Karahan wäre beinahe die Pistole aus der Hand gefallen. In letzter Sekunde jedoch hatte er sie aufgefangen und somit zeigte sie wieder auf Burak, der nach wie vor sich vor mich gestellt hatte. Schritte hallten laut auf dem Boden. Erleichtert atmete ich aus, als Neslihan den Raum betrat.

Sie sah kurz aus ihrem Augenwinkel zu mir, konzentrierte sich dann aber auf Arda. In ihrer Hand war ebenfalls eine Pistole und sie saß so dort, als wäre sie für sie bestimmt. »Arda Karahan. Waffe runter.«

»Neslihan Evren«, sprach er und blickte meine Tante abwegig an. Er versuchte sie einzuschätzen. Dann lächelte er.
»Du hast mir so viel weggenommen, Arda. Reicht es noch immer nicht?«
Neslihans Stimme war kräftig und dennoch hörte man, wie verletzt sie war. In ihren Gesichtszügen war der Hass deutlicher als jemals zuvor. »Lass die Waffe fallen. Sofort.«

Arda schüttelte den Kopf. »Lass du sie fallen oder die beiden sterben.«
»Mörder vom eigenen Bruder, Mörder vom Neffen, Mörder von der eigenen Ehefrau und jetzt Mörder deiner eigenen Tochter werden?«
»Asya ist tot!«, rief er. Sein Gesicht färbte sich rot. Er hatte es satt, das jedem erklären zu müssen. Ich hatte es genauso satt, dass man zigmal sagte, dass ich tot war, aber so führte ich mich auch nicht auf. Arda Karahan schien nicht Neslihan überzeugen zu wollen, sondern viel eher sich selbst. »Tot. Sie ist gestorben. Du hast mir meine Tochter selbst genommen!«
»Ich? Ich hab ihr also auch dir Narbe verpasst? Sie steht vor dir! Du kannst ja nicht einmal deine eigene Tochter wiedererkennen.«
Arda Karahan schüttelte heftig seinen Kopf. Er hatte sich verändert und irgendwie kam er mir nicht mehr wie das Ungeheuer vor, welches jeden Augenblick in mein Zimmer gestürmt kommen könnte und mir im selben Moment die Kehle aufschlitzen würde. Im Moment war er ein schwacher Ungeheuer, der die Wahrheit fürchtete. Er wollte sie nicht wahrhaben und dabei verhielt er sich so furchtbar lächerlich.

»Waffe runter!«, rief meine Tante wieder. In ihren Augen loderte ein ungeheuer großes Feuer. Sie knirschte mit ihren Zähnen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich enorm schnell. Wo blieb verdammt noch einmal die Polizei? Ich war gekommen, Neslihan war hier aber nein, die Polizei nicht.
Mein Vater nahm sich zusammen, dachte nach, dann widmete er sich meiner Tante zu, die Waffe trotz allem auf Burak gerichtet. »Willst du wirklich das Asya antun?« Woher der plötzliche Wandel? Ich dachte, Asya wäre tot? Seine Meinung konnte er ja keine Minute halten.
Karahan lächelte leicht. Gestört. »Ihre Mutter verlieren und jetzt den Vater?«
»Wie kannst du es wagen, deinen eigene Tat hier so stolz zu sagen?«, flüsterte Neslihan überrascht. Sie hatte recht. Das war eine Stufe von Niveaulosigkeit, die ich noch nie gesehen hatte. »Wie kannst du so damit prahlen?«
»Es geht um mein Kind.«
»Dass du umbringen wolltest!«
»Ich würde niemals mein Kind töten. Nicht mein eigen Fleisch und Blut.«
»Ich. Habe. Es. Selbst. Gesehen«, zischte sie jedes Wort einzeln heraus. Gefährlich.
»Ich wollte nur, dass sie leise ist!«
Burak drückte mich währenddessen noch weiter nach hinten, als würde noch Gefahr bestehen. Bestand noch Gefahr? Was wenn Karahan merkte, dass er sowieso keine Chance hatte und schoss?

Neslihan nahm mich und Burak kaum noch wahr. Sie verengte ihre Augen und fixierte Arda Karahan. Arda jedoch schien gelassener zu wirken. »Du kannst niemanden töten.« Wieso diese Sicherheit?
»Glaubst du ehrlich, ich verschone den Mörder meiner Schwester?«
»Du wirst mich nicht töten. Du hast mich nicht einmal an dem Tag umbringen können. Du kannst das gar nicht.«
»An dem Tag hatte ich keine Waffe in der Hand. Wer weiß, was ich getan hätte, wäre nicht meine Nichte darin!«

Über Neslihans Wangen fielen Tränen, unaufhaltsam, immer weiter in die Tiefe. Diese Erinnerung würden wir nie vergessen. Ich spürte heute noch, wie sie meinen gelähmten kleinen Körper getragen hatte. Wie sie hysterisch geschluchzt hatte.
»Nein«, flüsterte Karahan. »Du würdest das nicht tun. Du landest im Gefängnis.« Schon war die Sicherheit verpufft.

WiegenliedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt