Kapitel 11

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Wiegenlied
Kapitel 11

Totenstille. Es gab so viel, was ich sagen könnte, aber nichts davon schien angebracht. Das hieß, dass es besser war, zu schweigen und abzuwarten.

»Mahmud, komm mit mir hoch«, sprach Cesur zu seinem Sohn. Mahmud lief still die Treppen hoch und wusste schon, dass er zum Büro musste. Cesur blickte kurz mit einem undefinierbaren zu mir und dann zu seinem Neffen Burak.

Schließlich ging er zu seinem Sohn und ließ mich mit Burak allein. Burak starrte seinem Onkel nach und lief dann einfach an mir vorbei.
Hallo? Geht's noch?

Ich ging ihm nach und packte ihn am Arm, wie er es eben mit mir gemacht hatte. »Was sollte die Aktion eben?«
»Was eben?«
Kurzzeitgedächtniss?
»Muss ich dir das noch mal erzählen?«, fragte ich sarkastisch.

»Kannst du dich nicht einfach einmal bedanken?«
Er klang sehr gereizt. Mahmud hatte ihn wohl an seinem Schwachpunkt getroffen.
»Bedanken? Für eine Lüge? Ich wäre da auch allein raus gekommen ohne so was lächerliches auf die Welt zu setzen.«

Er sah mich nur an.
»Burak, ich will nicht, dass du wieder so was behauptest, egal ob du mich schützen willst oder nicht.«
»Es lohnt sich eh nicht, sich für dich einzusetzen«, erwiderte er barsch und wollte weiter.

Ich merkte es nicht einmal, als die Worte so über meine Lippen sprudelten: »Was ist mit deinem Vater?«

Wieso tat ich in letzter Zeit so viele Dinge, dir ich so sehr hasste? Wieso nur? Ich hasste es, wenn man einem die Privatsphäre anderer mit solchen Fragen löcherte. Wieso verdammt noch einmal hatte ich das jetzt gefragt?

»Ich sage nichts zu meinen Eltern. Kannst du gleich vergessen«, gab er von sich. Das Leben war von seinem Gesicht gewichen.
Ich musste kurz lächeln. »Bei mir ist der Bereich auch tabu.«

Er verdrehte dir Augen und ging davon. Ich hasste mich. Ich hasste mich dafür, ihn nicht angeschrieen, sondern stattdessen angelächelt zu haben. Egal, wie kurz und knapp dieses Lächeln war, er hatte es gesehen. Ich hätte auf jeden dieser Tische schlagen können. Womöglich hätte ich mich besser gefühlt,

»Wo ist Burak?«
Ich hasste diesen Namen. Als ich mich umdrehte, sah ich Ecrin mit Buraks Bestellung.
»Nicht hier«, stieß ich hervor und marschierte in Richtung Vorraum der Küche, weil ich allein sein wollte. Ecrin kam mir jedoch nach. »Was ist passiert?«
»Mahmud ist passiert.«

Ecrins Gesichtsmerkmale härteten sich plötzlich. Noch nie hatte ich sie hasserfüllt gesehen. »Ich hasse diesen Mahmud so sehr.«
Ihr Blick wurde dann aber wieder sanft. Sie war nicht wie ich. Sie konnte sich beherrschen. »Kaum zu glaubn, dass er und Burak verwandt sind. Sie sind so verschieden!«

Burak, Burak, Burak. Gab es hier niemand anderen mehr?! »Vielleicht sind sie ja gar nicht so verschieden.«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine gar nichts.«
Mein Hass auf Burak wurde immer größer. Ohne auf Ecrins weiteren Aussagen zu warten, eilte ich wieder zu meiner Arbeit.

Nach einer halben Stunde wurde es immer voller, sodass ich alle Hände voll zutun hatte.
»Ist alles okay?«, fragte mich Ecrin, als unsere Schicht zu ende war und ich bemerkte, dass ihre Frage nicht auf Neugier basierte, sondern auf Sorge. Konnte ich ihr wirklich trauen? »Ich weiß es einfach nicht.«
»Wie?«
»Ich tue in letzter Zeit so viele Dinge, die Aslı niemals tun würde.«

Ecrin fing an zu grinsen und hinter diesem Grinsen konnte ich schon etwas auf mich zukommen sehen. »Bist du verliebt?«
»Was? Nein!«
Sie kicherte. »Komm sag! In wen?«
Wieso mussten alle sofort an Liebe denken? Gab es keine anderen Probleme auf der Welt?

»Ecrin, du spinnst total!«
»Ist es dieser Polizist? Der, der dir dir Rose geschenkt hat?«, fragte sie und ihre Augen funkelten dabei.
Fatih? »Nein!«
»Auffällig...«
»Ecrin!«
»Okay, okay, ich höre ja schon auf.«

Wir machten uns fertig und wollten gehen, da kam gerade Cesur zu uns. »Mädels, hättet ihr heute Abend Zeit? Zwei meiner Angestellten sind krank und heute kommen wichtige Gäste. Ich kann das nicht verschieben.«
»Wieso gerade wir?«, fragte ich.
»Ich weiß, wie gut ihr arbeitet. Bitte springt ein. Es ist wirklich wichtig.«

»Okay, ich mach's«, sagte Ecrin. Von ihr konnte man auch nichts anderes erwarten.
»Na gut«, antwortete ich Cesur, durchbohrte ihn aber mit meinen Blicken. Sollte er mich doch feuern, wenn es ihn störte!

Wir liefen in der Stadt herum, weil Ecrin fand, dass das eine gute Gelegenheit war zu shoppen. Ich schrieb Neslihan noch kurz eine Nachicht, dass ich später kommen würde, damit sie sich keine Sorgen machte. Wir verbrachten lange Zeit in allen verschiedenen Läden und setzten uns dann in einen Café.

Später fuhr sie uns wieder ins Restaurant. Die Atmosphäre war irgendwie anders geworden. Vielleicht änderte sich da ja von Tag zu Nacht.
Ich musste mich wie immer umziehen und stellte mich dann zu den anderen Angestellten, die gerade eine Rede von Cesur bekamen. »Es muss alles perfekt sein!«, prägte er hart in alle ein. »Kein Streit, keine unhöflichen Kommentare, kein angaffen von Fauen, seid einfach mal normale Menschen und vermasselt mir ja nichts.«
Bla bla.

Zuerst schien es sehr leer zu sein, dann aber kamen immer mehr Männer in ihren besten Anzügen und Frauen in edlen Kleidern, vermutliche Geschäftsleute. Ich würdigte keinem Blicke. Die waren meistens sowieso alle nur auf ihren Mist spezialisiert und sahen uns von oben herab.

Ich kellnerte meistens im oberen Bereich, weil es hier weniger Gäste gab und es so für mich leichter war. Ein junger Mann hatte gerade seine Bestellung aufgesagt und ich wollte hinunter, als ich Cesurs Stimme hysterisch und leise hörte. »Wo bleibt das Team für die Musik? Die sollten seit einer halben Stunde da sein!«

»Keine Ahnung! Ich hab die ja angerufen, aber da nimmt keiner ab!«
Dir zweite Stimme gehörte Burak. Ich lief etwas schneller hinunter.

Die Angelegenheit brauchte mich nicht zu interessieren. Zügig brachte ich dem jungen mann seine Bestellung und begab mich zu den nächsten Gästen. Buraks und Cesurs Stimme hörte ich nicht mehr. Als ich wieder dabei war, die Bestellung hochzubringen, bemerkte ich Burak am Klavier. Das war jetzt nicht sein ernst, oder? Der am Klavier? Dazu musste man doch wirklich bescheuert sein.

Er begann zu spielen. So konzentriert hatte ich ihn nie erlebt. Diese völlig andere Seite. Es war, als sei er nicht mehr dieser asoziale Burak, sondern ein richtiger Gentleman.

Wie das Äußere täuschen konnte. Wie mein Herz brannte und ich beinahe zu Boden flog, als ich diese Melodie erkannte. Wie versteinert stand ich da, starrte zu Burak, lauschte dieser Musik und wartete auf die Tränen.

Doch es kam keine. Es fühlte sich so an, als hätte ich pure Säure getrunken und es nun mein Inneres verätzte. Es war mein Lied- mein Wiegenlied. Das war es. Wie konnte das sein? War das alles Zufall? Ich hörte die Stimme meiner Mutter im Ohr, die Klänge des Stückes und konnte meinen Blick nicht nehmen. Ich starb.

»Aslı? Alles okay?«, fragte mich Liana. Ich hatte keine Ahnung, wann sie gekommen war oder ob sie vorher schon etwas gesagt hatte.

Ich drückte ihr nur ohne ein Antwort die Bestellung in die Hand und machte mich eilig auf den Weg zum Ausgang.

Pechschwarz war die Nacht. Meine Schritte wurden immer schneller, bis ich begann zu rennen. In meinem Kopf rotierte die Melodie, selbst wenn ich noch so fest die Ohren zuschloss.

Ich kannte die Richtung nicht, meine Sicht war wie vernebelt, doch meine Füße schienen alles auswendig zu wissen. Als kannten sie die Straßen, die ich lief. Ich stoppte abrupt und lehnte meinen Hand mit ausgestrecktem Arm gegen einen Baum.

Ich war an einer langen Wiese angekommen, die mir Fremd war. Mein Keuchen war so laut, dass ich nichts anderes hörte und mein Schock viel zu groß, als ich hoch auf den Baum sah und eine Ritzung darin sah.

Es war ein Herz geritzt worden um die Initialen "A+B".
A+B.
A+B.
A+B.
Nur war dieses A niemals Aslı und dieses B auch nicht Burak.

WiegenliedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt