Kapitel 42

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Wiegenlied
Kapitel 42

Ich erkannte den Wagen schon, als er nahe am Restaurant anhielt.
»Das bedeutet wohl, dass du doch nicht mit uns fährst«, grinste Ecrin und stupste mich an, als Fatih aus seinem Wagen stieg. Ich blickte zuerst nach hinten zum Restaurant. Burak war noch nicht rausgekommen. Es war besser, wenn ich sofort zu Fatih ging, ohne dass sich die Beiden begegneten.

»Können wir reden?«, übersprang Fatih die Begrüßung.
»Ja klar«, erwiderte ich sofort.
Fatih schien angespannt zu sein. Ohne mir einen weiteren Blick zu schenken, stieg er, genauso wie ich, in den Wagen. Ich musste ungewollt an Anise denken. Hatte sie sich ihm geöffnet? Wohl kaum.

»Was ist los?«, fragte ich. Er hatte schon meine Neugier geweckt. Ohne eine Antwort fuhr er los. Seine Finger hatten sich fest um den Lenkrad geschlungen und eine weiße Farbe angenommen.
»Fatih, was ist los?«

Stille. Ich blickte aus dem Fenster und dann wieder zu ihm. »Wohin fahren wir?«
Langsam wurde ich ungeduldig und meine innere Stimme riet mir, sofort aus dem Wagen zu steigen. Nur dumm für meine innere Stimme, dass wir gerade fuhren und das auf hoher Geschwindigkeit. Sollten Polizisten da nicht mal vorsichtiger sein?

Plötzlich meldete sich mein altbekanntes Misstrauen. Wie lange kannte ich Fatih? Verdammt. Wie lange, wie gut kannte ich ihn? Wusste ich, wer er überhaupt war? »Fatih, halt an! Sofort!«
Er lachte leise. »Keine Sorge, wenn ich dich hätte entführen wollen, hätte ich das schon lange getan.«
»Halt an!«
Ich drückte an der Klinke und merkte, dass die Kindersicherung an war. Ich kam hier nicht weg. »Fatih! Halt sofort an!«
»Beruhig dich!«
»Was willst du von mir!?«
»Dass du mir zuhörst!«

Er bog in eine Seitenstraße ein und überquerte geschwind die lange Straße, bis wir an eine Sackgasse ankamen. Abrupt stoppte er da und ich drückte wieder an der Klinke, als würde sie plötzlich aufgehen.

»Ich muss mit dir reden«, sagte Fatih ruhig und fuhr sich durch das Haar.
Jetzt schien er nervös geworden zu sein. »Es- glaubst du wirklich, dass ich dich entführen könnte?«
»Ich glaube gar nichts! Ich weiß gar nichts. Alles, was ich weiß ist, dass einem selbst Geliebte über den Rücken fallen können!«
Ich fuhr durch mein Haar und atmete tief ein. Das mit dem durch die Haare fahren, taten die meisten Jungs, wenn etwas los war. Das musste doch helfen...
Ich atmete wieder tief ein.
Wieso war ich so schnell hysterisch geworden? Wieso bekam jedes Mal die Angst die Oberhand?

»Apropo, jeder kann einem über den Rücken fallen... Also, Aslı, ich hab dich sehr gern. Du bist eine furchtbar gute Freundin von mir geworden, vielleicht sogar die beste, aber das ist eigentlich nicht das Thema. Ich mag dich wirklich gerne und ich will nicht, dass dir weh getan wird, egal, auf welche Weise. Und dir, dir bedeuten einige Leute sehr viel, das weiß ich. Ich hoffe, ich bedeute dir auch viel, aber-«
»Komm auf den Punkt«, unterbrach ich ihn, denn mein Geduldsfaden war lange gerissen. »Du bist natürlich mein bester Freund«, fügte ich dann noch schnell hinzu, weil ich mir unhöflich vorkam und irgendwie stimmte das ja. Er war ja schließlich mein einziger Freund, oder? War er überhaupt ein Freund?

Ich sah Erleichterung in seinen Augen. Gleich aber wurde er wieder besorgt. »Also, ich- ich hab etwas über Burak recherchiert-«
»-oh nein, komm du nicht auch mit so was an. Ich komme allein klar, ich kann unterscheiden zwischen gut und böse.«
Zumindest einigermaßen.
»Deswegen dachtest du, ich will dich entführen?«
»Dann kann ich halt nicht zwischen gut und böse unterscheiden, aber ich bin vorsichtig genug- immer.«
»Okay, das wird dich trotzdem interessieren.«

Er holte eine kleine Mappe aus einer Tasche hervor und überreichte sie mir.
»Ich will das nicht lesen, wenn da irgendwas über Burak steht!«
»Du bist so stur, Mädchen, da steht etwas über dich, okay. Guck rein.«

Ich öffnete es widerwillig und erblickte das Foto eines Mädchens, welches mein Interesse weckte. Sie sah mir ähnlich aus. Unter ihrem Foto stand ein Datum. Die nächsten Fotos waren genauso. Vier Mädchen, die mir ähnelten und ein Datum darunter.
»Was soll das?«
»Das, liebe Aslı, sind einige von Burak Çetins Freundinen, wahrscheinlich gibt es noch mehr Aslı-Doubles.«

Ich sah mir wieder die Fotos an und schüttelte heftig den Kopf, als könnte ich so die Wahrheit abschütteln. »Nein, das kann nicht sein.«
»Du bist nur eine weitere«, sprach Fatih verletzend. »Ein weiteres Foto. Er-«
»Ich will das nicht hören.«

Ich steckte die Mappe wieder in seine Tasche und lehnte mich an meinen Sitz. Das waren keine Aslı-Doubles. Sie waren ein Double von irgendeinem anderen Mädchen und ich war es auch. Ich presste die Zähne so fest aneinander, sodass mein Kiefer schmerzte. »Und was interessiert mich das?«, zischte ich kurz darauf. »Ich bin nicht seine Freudin. Ich bin kein weiteres seiner Exemplare. Ich bin nichts von ihm.«

Fatih schüttelte den Kopf. »Du bist blind, Aslı. Merkst du denn nicht, wie weit er es in deinem Leben geschafft hat?«
»Nein!«, kreischte ich, wie ein kleines Kind. Ich biss mir auf die Lippe für meine Dummheit. »Bitte fahr mich nach Hause.«

Mit einem Nicken rollte er den Wagen wieder aus der Sackgasse hinaus und fuhr mich nach Hause.

Die Welt verschwamm auf einmal. Immer nebliger wurde die Umwelt und ich versank in meine eigene Welt.
Die Welt voll Trauer, voll Kummer, voll Qual, voller Fragen ohne Antworten und vor allem mit dieser Leere. Wie konnte diese Leere da sein, wenn ich doch mit so viel negativem voll war?

Ein Kloß bildete sich auf der schweigsamen Fahrt in meinem Hals. All die Zeit hatte ich mich gefragt, weshalb er mich bei sich haben wollte, obwohl ich es doch wusste.
Ich warf mich auf mein Bett, als ich zu Hause ankam. Meine Beine waren kaputt. Ich fühlte mich kaputt.
Ich war nur noch ein Bruchstück vom Ganzen. Schwach, verletzlich, einfach nicht mehr das, was ich einmal war. Ich wusste es. Ich hatte es immer gewusst. Aber trotzdem tat es weh, es zu hören. Vielleicht lag es aber auch an dieser Hoffnung.

»Ist alles in Ordnung?«, hörte ich die Stimme von Neslihan, während sie an meiner Zimmertür klopfte. Es war nichts in Ordnung. Das war es nie. Eine Träne fiel mir über das Gesicht und hinterließ einen dunklen Abdruck auf meinem Bettlaken. Seit wann weinte ich? Seit wann war alles so zerbrochen in mir? Wegen Burak? Hatte er es wirklich so weit geschafft, dass die schon vom Leben abgehärtete Aslı weinte?

Die Zimmertür glitt auf. Mit tränengetränkten Augen blickte ich dorthin. »Neslihan«, nuschelte ich und warf mich in ihre Arme.
»Aslı-«
»Nein, sag das nicht. Sag nichts, bitte.«
Und dann ließ ich sie los und lief den Flur entlang. Ich musste das tun, was ich hätte bis jetzt tun sollen.
»Aslı, wo gehst du hin?«
»Zu Burak.«

Ich verließ eilend das Apartment und rannte zur Bushaltestelle. Es war kühl und ich hatte keine Jacke mitgenommen. Der Wind peitschte mein Haar durcheinander, doch daran konnte ich nicht denken. Ich musste an Burak denken und an Fatihs Worte. Was ich Burak sagen wollte, wusste ich selbst dann nicht, als ich schon im Bus saß, aber das war nebensächlich. Es war wie bei Neslihan. Auch wenn ich sauer auf sie war, wollte ich bei ihr bleiben. Auch wenn ich wegen Burak geweint hatte, ich wollte, dass er es war, der mich tröstete.

Krank, ja vielleicht war es krank. Vielleicht war ich krank, aber im Moment war das okay. Es war mir egal.

Ich stieg aus dem Bus und lief die Straße entlang. Was war das für ein Gefühl, dass ich bei jedem Schritt nervöser wurde?
Ungeduldig wartete ich, nachdem ich geklingelt hatte. Schließlich konnte ich hoch und sah ihn.
Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht. »Was machst du hier?«
Doch so schnell dieses Lächeln gekommen war, desto schneller verschwand es. »Hast du geweint?«

Ich zuckte mit der Schulter, was überhaupt keine Antwort war. »Ich-«, spätestens jetzt sollte ich wissen, was ich sagen wollte, ich wusste es jedoch nicht.
»Komm doch rein«, bot er an und ich lief in sein Zuhause. Mein Blick glitt als erstes auf die Kommode, auf dem das Bild mit ihm und seiner Mutter war. Das war mal ein Familienbild, dachte ich. Jetzt war es kaputt.

»Ich stelle dir eine Frage und du beantwortest sie ehrlich, okay?«, flüsterte ich und nahm das "Familenfoto" in die Hand.
»Okay«, zog er das Wort lang.
»Sehe ich rein zufällig so aus, wie deine Ex-Freundinnen?«

WiegenliedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt