{no. 7} Wonderland

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Dreams

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Rosie legt die Arme um ihre große weinende Schwester, und es ist, als wäre alles wie früher. Nur, dass die Kleine die Große trösten muss und nicht umgekehrt.
"Wieso bist du gegangen?" Claire ist rot und ihr Gesicht angeschwollen von den vielen Tränen. Die kleine Schwester sieht mich fragend an, als ob sie nicht wüsste, ob sie es ihr erzählen darf oder nicht. Als ich leicht mit Kopf nicke, erhellt die klare zarte Stimme die Luft und bringt sie samt meinem Herzen zum Schwingen.
"Sieh mal, Claire, in der Welt da unten gibt es keinen Platz für mich. Ich weiß nicht, wie ich mit all dem dort unten umgehen sollte. Es ist zuviel für mich. Du weißt doch, dass ich immer Farben überall gesehen habe." "Ich weiß. Damals sagtest du zu mir, mein Schmerz sei grün. Ich habe es dir geglaubt, doch ich wusste mit dieser Information nicht viel anzufangen." "Genau so war es. Dein Schmerz ist grün und voller Hoffnung, auch wenn sich das für dich vielleicht seltsam anhören mag. Du bist voller Hoffnung. Deshalb darfst du mir erst nachfolgen, wenn die Zeit für dich gekommen ist."
Ich war mir nicht ganz sicher, ob das Kind wirklich sechs Jahre alt sein soll. "Mama hat doch mal irgendeine Bezeichnung für das gehabt, was ich ständig hatte und auch noch immer habe. Sie hat gesagt, ich hätte Syn... Synthese oder sowas ähnliches." Sie lächelte schwach. "Synästhesie." "Ja genau. Und das hat etwas mit mir angestellt. Zuviele Menschen haben Schmerz um sich. Ich sehe sie lächeln, aber sie lächeln nicht. Ich höre sie lachen, aber sie lachen nicht. Ich sehe sie sich umarmen, aber sie lieben sich nicht. Und dann noch im Kindergarten. All diese kleinen Wesen, von denen ich selbst ja auch noch eines bin, viele von ihnen waren schon damals gebrochen. Bei vielen sind meine Versuche gescheitert, sie glücklich zu machen. Ich sehe sie, aber kann ihnen nicht helfen. Das hat mir zu sehr zugesetzt."

Ich habe Tränen in den Augen.

"Du hättest zu mir kommen und mit mir darüber sprechen können. Über alles." "Du hättest mir auch nicht mehr helfen können. Und den Kindern schon gar nicht." "Aber gäbe es nicht noch eine andere Möglichkeit als den Tod?" "Für mich nicht, Claire. Nicht für mich. Für dich ja, aber bei mir ist alles zu spät. Aber damit noch jemand für dich sorgt, ist John bei dir. Er ist für dich da, wann immer du ihn brauchst."

Jetzt blickt sie mich schüchtern an. Wohl oder übel muss ich mich nun dazu äußern. "Ich habe ihr mein Wort gegeben." Claires trauriges Gesicht wendet sich mir zu. "Du kennst sie?" "Sie hat mich geschickt, Kleine. Das sagte ich doch schon. Du warst zu verzweifelt, um mich zu verstehen. Du konntest es einfach nicht. Es tut mir leid."
Langsam wird es Zeit, dass wir wieder gehen. "Hast du deiner Schwester noch etwas zu sagen?" Sie wendet sich wieder Rosie zu. "Kleine. Meine Prinzessin... werden wir uns wiedersehen?" "Ich werde immer auf dich aufpassen. Du musst jetzt zu Mama und sie trösten. Sag ihr, dass es mir jetzt hier besser geht. Und bitte, weint nicht soviel, weil ich weg bin, sondern freut euch, dass ich jetzt glücklich bin. Ich weiß, es ist schwer, aber tut es für mich. Weil ihr mich liebt und weil ich euch liebe. Bitte." "Rosie. Wir müssen-" "Ich weiß, John. Es ist mir bekannt."
"Halt sie fest. Sie braucht deine Träume. Du bist im Moment die einzige Person, zu der sie Vertrauen hat, auch wenn du nicht mehr da bist. Sei bei ihr, vor allem in der Nacht. Du musst sie beruhigen. Denn eure Mutter kann es nicht, sie muss selbst getröstet und ermutigt werden." "Ich werde so oft bei meiner Schwester sein, wie es für mich möglich ist. Ich werde auf sie aufpassen. Aber jetzt müsst ihr zu Mama gehen, bevor sie noch verrückt wird."

"Rosie?"

"John?"

"Verrate mich nicht."

"Das ist das letzte, was ich tun würde, John. Und das weißt du auch." "Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann. Das war schon immer so. Und dafür bin ich dir auch unendlich dankbar. Du bist die Beste!" "Das wissen wir doch beide." Und sie lacht. "Oh John, ich werde dich vermissen." "Wir sehen uns ja bald wieder." "Na so bald hoffentlich auch wieder nicht." "Ja... du weißt wie ich das gemeint habe." "Vergiss mich nicht in der Zwischenzeit, versprich mir das!" "Wie könnte ich dich jemals vergessen, Rosie? Was denkst du eigentlich von mir?" Und wir lachen beide.
Kurz riskiere ich einen Blick zu Claire und bemerke, wie sie fassungslos zwischen uns beiden hin- und herblickt. Da wird es später wohl einiges zu erklären geben, dessen bin ich mir zu einer Million Prozent sicher. Immerhin trete ich einfach so in ihr Leben, scheine aber ihre verstorbene Schwester schon seit Jahren zu kennen, wo sie doch gerade mal sechs Jahre alt ist. War. Und jetzt sind wir hier im Nirgendwo und sprechen, als wäre alles in bester Ordnung. Oh ja, das wird schwierig. Und ein kleiner Spaß, wenn wir gleich Rosie wieder verlassen müssen. Es wird jetzt aber langsam wirklich Zeit!
Sie erwacht aus ihrer Starre und scheint immer noch nicht zu verstehen. "John, was-" "Hey, Claire, ich weiß, es gibt einiges, wo du jetzt gerade noch nicht durchblickst, aber das werde ich dir alles noch erklären, mach dir da mal keine Sorgen. Ich verspreche es dir hoch und heilig, ehrlich." Wie viel will ich den beiden eigentlich noch versprechen, ohne mich selbst da total und komplett in die Scheiße zu reiten? "Aber was ist mit... warum versteht ihr euch so gut? Was ist hier los? John? John!" Sie greift meinen Arm und reißt ihn hin und her wie einen Knüppel. "Bitte, glaub mir doch, ich werde dir alles erklären, aber jetzt müssen wir weg von hier. Sofort! Rosie, nimm ihre Hand!" Das kleine Mädchen ergreift behutsam die Hand ihrer großen Schwester und lässt sie nicht los, bis wir wieder zurück in der Realität sind. Und ohne, dass Claire es bemerkt, ist little Rosie auch schon wieder verschwunden. Jetzt können die Worte der Erklärung langsam mal zu mir durchdringen, sonst schaff ich das nicht.

Claire...

Sepia TimesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt