{no. 5} Vergessen und erinnern

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John

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Sie schläft schon seit einer gefühlten Ewigkeit, ohne sich zu bewegen, und dabei tut sie mir so wahnsinnig leid. Es ist ein Albtraum für jeden Menschen hier auf Erden, eine geliebte Person zu verlieren, vor allem, wenn sie erst so jung war wie Rosie. Claires kleine Schwester war noch nicht alt genug, um zu gehen, aber sie hat bereits so vieles gesehen. Ihre große Schwester konnte das nicht wissen, daraus wird ihr auch niemand einen Vorwurf machen. Sie konnte es überhaupt nicht bemerken, denn Rosie war in der Lage, Dinge zu sehen, die für andere verborgen blieben.
Ich habe ihre Hände und Knie verbunden, damit sie schneller heilen können, sonst hat sie neben den seelischen Schmerzen auch noch physische.
Natürlich war es kein Zufall, dass ich Claire umgerannt habe, es war quasi meine Aufgabe gewesen, sie auf mich aufmerksam zu machen. Wenn ich sie einfach angesprochen hätte, hätte sie mir vermutlich einen Korb gegeben, sie war nämlich bestimmt nicht in der Stimmung, neue Bekannschaften zu machen, das hab ich sofort gemerkt. Das mit dem umlatschen war vielleicht ein wenig sehr grob, aber es hat funktioniert. Sie hat erstaunlich schnell Vertrauen zu mir aufgebaut. Irgendwie ist das unheimlich. Das war nicht der Plan. Sie hätte noch länger brauchen sollen. Sie kennt mich doch gar nicht.
Und noch etwas ist schiefgelaufen. Ich bin drauf und dran, mich in sie zu verlieben. Nach nur einem Tag! In so einer kurzen Zeit kann das doch noch gar nicht als Liebe gelten.

Oder?

Aber sie hat etwas an sich. Was es ist, ist das große Rätsel. Eine tiefe Traurigkeit verbirgt sich hinter diesem wundervollen zarten und hübschen Gesicht. Diese weichen Haare, die vollen roten Lippen und diese wundervollen traurigen und stumpfen Augen, die in der Wintersonne geglänzt haben.
Stopp! Das darf ich nicht denken! Sie ist ein Mensch. Und ich? Ich weiß es nicht. Ich bin John. John mit einer Aufgabe, die sich Claire nennt. Sie zu beschützen ist jetzt das wichtigste. Sie muss vor sich selbst und ihren Gedanken geschützt werden.
Meine Hand wandert langsam und mit der größten Vorsicht zu ihrer Nase, um zu sehen, ob sie regelmäßig atmet. Ich widerstehe dem Drang, meinen Kopf auf ihren Brustkorb zu platzieren. Verdammt, John, komm zur Vernunft! Wütend über mich selbst stehe ich auf und tigere durch das Haus. Mein Weg endet vor dem Kühlschrank. Pizza. Kalt. Egal, Hauptsache es lenkt ab.
Das Sofa knarzt unter meinem Gewicht, als ich mich unsanft darauf werfe und den Fernseher einschalte. Allerdings drehe ich die Lautstärke auf null. Macht keinen Sinn, aber ich kann nicht klar denken, dank einem Mädchen, das ich seit Jahren zu kennen meine und doch ihre Trauer nicht zu mildern weiß. Doch genau das ist meine Aufgabe. Rosie hat es mir gesagt, kurz bevor sie sterben musste. Armes kleines Ding. Sie hat keinen Platz in dieser Welt gefunden, deshalb ist sie wieder hinüber gegangen. Dorthin, wo alles besser ist. Ihre Seele hat ihren persönlichen Frieden gefunden. Doch davor hat sie mich aufgsucht und mich gebeten, auf ihre große Schwester aufzupassen. Und ich Trottel habe es ihr auch noch versprochen. Wie auch immer ich das anstellen will.
Das Auto hat little Rosie nicht erwischt, sondern sie ist davor gesprungen. Nur glaubt einem das kein Mensch, wenn man behauptet, dass ein kleines Kind Suizid begeht. Deshalb sah es für alle so aus, als hätte der Fahrer sie volle Kanne erwischt. Wenn ich sie drüben wiedersehe, muss ich sie unbedingt fragen, was sie sich dabei gedacht hat, einfach ihre ganzen Verwandten und Freunde hier alleine zu lassen. Sie hat jetzt wahrscheinlich wieder ihre Flügel, so wie damals, als sie noch drüben war. Wir alle legen sie ab, wenn wir in diese Welt geschickt werden. Ich frage mich nur, was die anderen zu ihr sagen werden, wenn sie so früh schon wieder zurückkommt.
Das Geräusch leiser und vorsichtiger Schritte dringt an mein Ohr und ich drehe meinen Kopf zur Tür.

"John?"

"Was ist los mit dir?"

"Kann ich bei dir bleiben?"

Ihre Augen sind blutunterlaufen und das schöne Gesicht ist ganz rot von ihren Tränen. Ich möchte eigentlich aufstehen und ihr einen Kuss auf den Scheitel drücken. Claire, du machst es mir nicht gerade leicht! Ich winke sie zu mir und lasse sie sich in meinen Armen einrollen und decke sie zu. Die Investition ist dieses riesige Sofa hat sich also gelohnt.
Sie schluchzt noch einige Male auf, was mein Herz schmerzhaft in tausende kleine Stücke zerschmettert. Nun drücke ich meine Lippen doch ganz leicht auf ihren warmen Kopf. Verdammtes Mitleid. Helfen und wieder verschwinden. Klingt doch eigentlich nach einem Plan. Dann führ ihn auch aus, du Schwachkopf!
In der Früh weckt mich der Geruch von starkem Kaffee. Passiert mir nicht oft. Noch mit halb geschlossenen Augen taste ich nach Claire, aber sie ist weg. Wow, Kombination, John. Kaffee macht sich nicht von allein. Meine Lider heben sich nun doch mühsam und in dem Moment sinkt das Sofa ein wenig ein, weil sie sich zu mir setzt.

"Wo hastn du dein Brot?"

Ratter ratter. Wach auf und antworte ihr!

"Normalerweise esse ich immer in einem Café. Ich frühstücke nicht daheim."

"Mist, die Schule!", klatscht ihr plötzlich der Gedanke ins Gesicht.

"Heute ist Mittwoch und wir haben Ferien", beruhige ich sie. Doch dann macht es bei ihr klick und sie weiß, weshalb sie überhaupt bei einem fremden Jungen geschlafen hat. Wie vom Blitz getroffen springt sie vom Sofa auf, rennt hoch in mein Zimmer und krallt sich ihre Sachen, während ihr wieder die Tränen in Sturzbächen das Gesicht hinunterlaufen. Sie ruft immerfort: "Rosie, nein! Rosie! Tu mir das nicht an, ich brauche dich doch!" Hastig rennt sie hin und her, streift sich ihre Schuhe über, die matschigen Schuhevon gestern. Jetzt ist der Matsch trocken und verkrustet, doch das scheint sie nicht zu stören.

"Bleib hier, du kannst ihr nicht mehr helfen! Bitte, Claire, bleib!"

Sie dreht sich um und ihr zorniges und unendlich verletztes Herz spiegelt sich in ihren Augen wider. Sie bringt nur ein "Ich kann nicht!" hervor und verschwindet nun endgültig aus der Tür. Sie weiß doch nichtmal, wo sie hier ist oder wo sie hinmuss! Jetzt schalte ich endlich komplett und springe wie ein Wahnsinniger vom Sofa auf und zwänge mich in einem rekordverdächtigen Tempo in meine Kleider, ziehe den Pulli verkehrtherum an und muss ihn erst umdrehen, bevor ich mich am heißen Kaffee verbrühe und ihr hinterherzusprinten versuche.
Ich spiele kurz mit dem Gedanken, es wie gestern zu machen, doch ich darf nicht ganz auffallen wie ein bunter Hund, deshalb entschließe ich mich für die menschliche Variante und sprinte ihr nach.

Oh Rosie, was hast du uns nur angetan?

Sepia TimesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt