{no. 3} Kaffee, die zweite

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Dienstag Nachmittag

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So kam es, dass wir zum zweiten Mal an diesem Tag innerhalb weniger Stunden einen Kaffee tranken.
  Er sieht mich die ganze Zeit über an. Es ist aber nicht unangenehm oder so, ich meine, ich fühl mich jetzt nicht unbedingt beobachtet, sondern... gemocht. Das kommt nicht oft vor in dieser Welt. Das Gefühl, hier nicht hineinzugehören hatte sich tief in mir verankert. Wie bei Georg Trakl. Es ist die Seele ein fremdes auf Erden. Danke für diese Worte, Georg. Genau so fühle ich mich die ganze Zeit. Nur jetzt nicht. Es liegt an ihm. Er ist anders, besonders irgendwie. Natürlich kann ich nicht die ganze Zeit über seinen Blick festhalten, sodass sich mein Blickfeld immer mal wieder Richtung draußen bewegt. Aber ich genieße es. Sydney hält sich grinsend raus.
  Manchmal frage ich mich, wofür Freunde da sind. Um einen permanent dämlich von der Seite anzugrinsen? Darauf kann ich gut und gerne verzichten. Zu meinem Freundeskreis gehört zwar nur Sydney, aber jetzt vielleicht auch noch John. Irgendwie mag ich ihn. Er ist sympathisch und hat genau die Eigenschaften, die sich ein Mädchen von ihrem Freund wünschen würde.
  Was sind das denn jetzt wieder für Gedanken? Er ist nicht mein Freund!
Plötzlich habe ich das Gefühl, er strahlt. Er strahlt ein helles Licht aus, das den ganzen Raum erhellt. Völlig perplex reibe ich mir die Augen, woraufhin er mich erstaunt ansieht. Was ist das? Die Sonne kann es eigentlich nicht sein, die ist hinter einer winterlich grauen Wolkendecke verschwunden und hat sich seit Stunden nicht mehr gezeigt. Jetzt durchdringe ich Sydney mit einem bohrenden Blick, doch sie scheint nichts bemerkt zu haben. In dem Moment ist das Leuchten auch schon wieder verschwunden. Himmel, werde ich jetzt verrückt?
  Meine Freundin hält sich generell aus unserem Gespräch raus. Irgendwie muss das ganze aber wieder ins rollen gebracht werden. "Sag mal, auf welche Schule gehst du eigentlich?"
Toll. Smalltalk Alarm.
  "Auf die Gardon Schule."
  Sydney sieht von ihrem Handy auf und glotzt mir mitten ins Gesicht.
"Auf die gehen wir auch. Warum haben wir dich noch nie gesehen?" "Wahrscheinlich habt ihr mich nur nicht wahrgenommen. Es passiert immer wieder, dass ich Leute auf meiner, oder eben unserer, Schule entdecke und denke, sie noch nie gesehen zu haben." "Wow. Das ist jetzt krank." "Warum ist das krank?"
  Weil es hier mindestens ne Million Schulen gibt? "Weiß auch nicht."

*

Eine Stunde später laufen wir doch noch in der Innenstadt herum. Es fühlt sich an, als wären wir schon ewig befreundet. In meinem Kopf schwirrt immer noch die Frage herum, wer er ist. Er kann nicht einfach so in mein Leben treten, ohne dass ich das will. Und noch dazu auf meine Schule gehen.
  Syd quasselt irgendwas von einem Typen, der in irgendeinem Film irgendeine Rolle spielt. Ich kann ihr nicht zuhören, bin zu sehr in meinen Gedanken an meine und Johns Existenz vertieft. Mein Kopf dreht sich schon wieder, diesmal zum Glück nicht von einem Crash. Wieder liegt meine Hand in der von John, er ist einen Kopf größer als ich. Ich hab schon längst wieder vergessen, dass ich böse auf ihn bin. Und wenn ich rückblickend sagen müsste, dass es besser so war, habe ich vollkommen Recht. Ich sollte nämlich noch eine ganze Menge von ihm erfahren, was mir teilweise ganz schön Angst machen wird.
  Mittlerweile ist es dunkel und wir laufen schon eine ganze Weile durch die leuchtenden Lichter der weihnachtlich geschmückten Stadt. Ich sehe zu John auf, um ihn zu mustern, und dann passiert etwas, ich muss gestehen, echt unerwartetes. Er küsst mich auf die Stirn, als würde er das jeden Tag machen. Die Schmetterlinge und Spinnen in meinem Bauch und in meinem Herz starten ein Wettrennen zu meinem Kopf. Als sie dann alle in meinem Hirn kribbeln, werde ich knallrot und blicke wie ein Trottel lächelnd auf den Boden.

Oh, eine glimmende Zigarette.

Oh, ein leerer Kaffeebecher.

Mensch guck mal da, n Kaugummi!

"Das hab ich gesehen! Ich hab's gaaanz genau gesehen!", kreischt meine einzige Freundin uns an und hoppelt wie ein bekifftes Kaninchen vor uns auf und ab. Ich versuche meinen Blick als Mordwaffe zu benutzen, scheitere jedoch kläglich. "Was hast du gesehen?", säuselt der Typ, den ich erst seit ein paar Stunden kenne, der mich umgecrasht hat und bei dem ich gerade drauf und dran bin, mich in ihn zu verknallen. "Ihr habt euch geküsst, ihr habt euch geküsst!", brüllt sie durch die mit Menschen gefüllten Straßen wie eine Sechsjährige. Manche schauen grinsend oder mit leerem Gesichtsausdruck zu uns herüber.

Well, that escalated quickly.

So ein Mist.

Ich muss erstmal mich selbst finden, bevor er mich findet. "Ich glaube, du musst mir noch einiges von dir erzählen", meint er plötzlich unschuldig. Kann der auch noch Gedanken lesen? "Nur, wenn du mir erst von dir berichtest." "Werde ich früher oder später wohl müssen, da führt kein Weg dran vorbei."
Wir lächeln uns an.
  "Boah. Ich. Muss. Gleich. Kot. Zen.", singt Sydney in der Melodie von We will rock you. "Hä?", blöffe ich sie an. Was war das denn jetzt? Sie grinst nur hämisch und meint: "Nehmt euch n Zimmer ihr Turteltauben!" "Jetzt übertreib mal nicht gleich. Das war nur meine Stirn!" "Das sagen sie alle." "Ich hab dich auch lieb, Syddie."
  Als er jetzt auch noch den Arm um meine Schulter legt, setzt es bei mir völlig aus. Quakende Freundin meldet sich wieder zum Dienst: "War doch nur Spaß, ihr seid süß zusammen." Was kann ich also anderes tun als wieder den Boden mit meinen Augen auseinanderzunehmen?
  Es ist doch seltsam. Dieser Junge ist seit vielleicht gerade mal fünf Stunden in meinem Leben, und doch kommt es mir wie eine Ewigkeit vor. Allerdings ist er auch kein normaler Mensch, meiner Ansicht nach. Er ist etwas besonderes. Aber warum passiert er ausgerechnet mir? Womit habe ich einen so wunderbaren und himmlischen Menschen verdient? Meine Vergangenheit ist in Ordnung, meine Gegenwart auch. Da ist nur immer das Gefühl, nicht zu wissen, wer ich bin. Und ob ich hierher gehöre. Und doch muss es irgendetwas geben, warum John für mich bestimmt wurde. Unsere Gespräche und meine düsteren Gedanken werden jäh von meinem klingelnden Mobiltelephon unterbrochen. Und als meine völlig aufgelöste Mum mir die Nachricht überbringt, weiß ich plötzlich, weshalb John zu mir geschickt wurde.

"Claire, deine kleine Schwester ist tot."

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