{no. 4} Wer bist du?

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Dienstag Abend

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Kann man sich die Lunge aus dem Leib atmen? Kann man Kratzer in der Luftröhre bekommen, weil es so wahnsinnig schmerzt? Kann ein Herz vor Trauer und Schmerz zerbrechen? Kann man auf den Scherben des gebrochenen Herzens ausrutschen und sich daran schneiden?
Mit voller Wucht knalle ich der Länge nach auf den Boden, reiße mir Knie, Ellenbogen und Handflächen auf, meine, ein Knacken im Handgelenk wahrgenommen zu haben, rapple mich wieder auf und stürme weiter durch die Dunkelheit.
Können so viele vergossene Tränen die Konturen meines Gesichts verwischen, sodass es nicht mehr mir, sondern dem eines gequälten Monsters entspricht? Kann eine Identität, die noch nicht gefunden wurde, durch das Auslöschen einer anderen einfach mit verschwinden? Können Füße einfach abfallen, weil man zu viel gerannt ist? Weil man zu schnell und zu lange versucht, vor der Wahrheit und der Realität davonzulaufen? Was ist das Leben? Ein unfaires Spiel, das zugunsten der Egoisten seine Karten gegen die friedvollen Menschen ausspielt? Haben Menschen, die nicht ständig an sich selbst denken, von vornherein schon verloren?
Mittlerweile bin ich auf einer Landstraße angekommen, die wie eine Allee von Bäumen umsäumt ist. Nur selten kommt ein Auto vorbei, so wie jetzt. Die Scheinwerfer blenden mich, ganz knapp stehe ich am Straßenrand und frage mich, ob ich ohne meine kleine Schwester, den Lichtblick in meinem verdunkelten Leben, noch existieren möchte. Der Fahrer hupt mehrmals, weicht minimal aus und ich erschrecke so sehr, dass ich nach hinten und über die Leitplanke stolpere und einen feuchten Abhang hinunterrutsche. Benommen bleibe ich liegen, die Tränen verwischen das Ich, das sich seit meiner Geburt auf meinem Gesicht breitgemacht hat. Angst vor der lauernden Dunkelheit gibt es jetzt nicht. Es gibt nur mich. Mich, die Tränen und den Geist meiner toten Schwester. "Rosie", hauche ich, in der Hoffnung, sie auf diese Weise näher bei mir haben zu können. Ich versuche zu atmen, aber die Splitter meines kaputten Herzens bohren sich nun auch noch einen Weg durch meine Luftröhre, sodass es sich anhört wie eine rostige Rasselkette.
Plötzlich fängt in einigen Metern Entfernung vor meinen Augen ein kleiner Kreis zu leuchten an. Er strahlt ein helles Licht aus und langsam erscheint eine Silhouette in dem Lichtschein. Ich bekomme einen solchen Schock, dass ich das nach Luft schnappen völlig vergesse und mir die nackte Panik an den Hals springt und sich wie eine Natter um ihn legt.

"Claire?"

Ach du scheiße!

"JOHN?", flüstere ich in einer Lautstärke, sodass ich klinge, als hätte man mir meine Stimme geraubt, aber vergessen die Lautstärke mitzunehmen.
"Ja, ich." "Was zum Henker bist du?"
Fassungslosigkeit überfällt mich. Soll ich Angst haben oder mich freuen? Wie kommt er hierher? Wie hat er das angestellt? "Bist du Jumper oder was geht hier ab?" Noch immer ist meine Stimme nicht zurückgekehrt und ich krächze wie der kleine Rabe Socke. Der kleine... Rabe... Und wieder flenne ich los. Der Lichtschein um John ist verschwunden und er legt fürsorglich einen Arm um mich. "Wie hast du das gemacht?", schluchze ich, ohne ihn dabei anzusehen. "Sieh mal, Claire, ich bin kein, wie soll ich sagen-" "Mensch?", unterbreche ich ihn. "Ja, nein, doch irgendwie schon, aber ich muss mich um dich kümmern." "Weswegen? Sehe ich aus als würde ich mich gleich auf die Straße werfen?" "Ehrlich gesagt schon ein bisschen..." "Das hilft mir aber null!" "Ich weiß. Deswegen-" "Hör zu, Professor 'Ich-muss-dich-beschützen'", langsam werde ich sauer. Ich bin kein Baby und kann auf mich selbst aufpassen. "Du bist hier unerwünscht! Ich liege im Dreck und bin durch den Matsch geschlittert, ja und? Ich brauche dich nicht! Ich hasse dich und deinen Helferinstinkt! Du bist doch nicht normal! Tauchst einfach so hier auf und wirfst mit Rauchbomben um dich wie Gundel Gaukeley! Was willst du damit bezwecken? Soll ich dir um denHals fallen?" "Du weißt nicht, was du da sagst." "Oh doch, ich weiß es sehr wohl." Wütend wische ich mir über's Gesicht. Ich will aufstehen, weiterrennen und nie wieder zurückkommen. "Lass mich doch bitte erklären!" "Nein. Ich will deine Erklärungen nicht!"
Ein kleines bisschen tut es mir ja schon leid, was ich da von mir gebe. Aber ich kann einfach nicht anders. Es tut mir leid, John, ehrlich. Versuch doch ein wenig zu verstehen.
Bitte nimm mich in den Arm. Bitte.
Doch ich kann nicht. Ich kann mich nicht auf ihn einlassen. Nicht jetzt, nicht so und nicht hier. Ich klettere wieder die Böschung hinauf und will einfach nur weg von hier. Plötzlich überkommt mich ein Hustenanfall und ich beuge mich vornüber, weil ich fürchte, mich übergeben zu müssen. Doch es kommt nichts. Also renne ich wieder los. Insgeheim hoffe ich, er würde mir nachlaufen, doch wir sind hier in keiner schlechten Liebesromanze, sondern im wirklichen Leben und hinter mir sind keinerlei Schritte zu vernehmen. John brüllt mir etwas fast unverständliches hinterher. "Deine Schwester schickt mich!"
Nach einer gefühlten Ewigkeit stoppen meine Beine von selbst und ich breche völlig kraftlos und erschöpft in mir zusammen.

*

"Claire?"

Sag es nochmal. Bitte.

"Claire, wach auf!"

Noch einmal, du sagst es so schön.

"Claire, komm zu dir!"

Hi. Ich bin Claire.

"Wer bist du?"

"Ich bin's, John. Mach die Augen auf! Sieh mich an!"

Meine Lider heben sich zitternd und ich sehe in ein Universum. Es ist so groß und so hell und so wunderschön, dass ich wieder weinen und in diesem Universum versinken möchte. John blinzelt kurz und die Schönheit verschwindet für den Bruchteil einer Sekunde, doch als er seine Augen wieder öffnet, ertrinke ich erneut.

"Warum starrst du mich so an?"

"Weil du so wunderschön bist, John Unbekannt."

Mein Kopf liegt auf seinem Schoß und ich kann von unten in seine wundervollen Augen blicken. Ich habe keine Ahnung, wie ich hierher komme. Beinahe hätte ich meine Schwester vergessen. Die getrockneten Tränen werden von neuen abgelöst, aber meine Lider schließen sich dabei nicht. Es strömt aus meinen Augen heraus und ich kann einfach nicht schluchzen. Ich möchte einfach nur die Augen schließen und bei Rosie sein. Meiner kleinen synästhetischen Schwester, die mir sagt, welche Farbe mein Schmerz hat. Dann fallen meine Augen erneut zu. "Ich nehm dich mit zu mir", höre ich noch, als John meinen Kopf anhebt, mich in die Arme nimmt und mit mir von der Straße in der Dunkelheit verschwindet.

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