{no. 6} Rosie. Oder auch little Rosie, ihre kleine Schwester.

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John

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Völlig aufgelöst kauert sie auf einem Stein im Wald und wird von der Trauer geschüttelt.
"Claire, das ist doch viel zu kalt!" "Du bist nicht meine verdammte Mutter!", schreit sie mir mit einer solchen Kraft und Lautstärke entgegen und ich taumle vor Schreck einige Schritte zurück. "Lass mich alleine!", bittet sie nun schwach. "Bitte. Du kannst mir nicht helfen." "Lass es mich doch wenigstens versuchen." Sie denkt nicht lange nach und sagt ohne zu zögern: "Bring mich zu meiner Schwester."
Okay krass.
"Du willst sterben?" "Wenn du das so unverblümt sagen musst..." "Kannst du dir nicht was realistisches wünschen?" Junge. Stopp mal. Die hat gerade erst ihre kleine Schwester verloren und du fragst sie nach realistischen Wünschen? Du Vollidiot! Was soll ich denn jetzt machen? Eigentlich bin ich dazu nicht befugt! Das darf nur der oberste Chef und der wird das mit Sicherheit nicht machen! Mein einziger Weg besteht darin, die beiden unbewusst zusammenzubringen. Durch einen Gedanken, oder... nein, das ist zu kurz. Sie müssten miteinander reden, sich im klaren darüber sein, dass sie gerade wirklich miteinander sprechen. Aber wie soll das gehen? Zum Leben erwecken kann ich sie nicht, soviel steht schonmal fest. Es muss doch noch eine andere Möglichkeit geben...? Dann trifft mich der Geistesblitz wie ein Schlag in die Fresse. Ja klar! Ich lasse sie einfach von ihr träumen! Dafür müsste ich aber kurz rüber, und das ginge eigentlich erst, wenn ich selbst schon gestorben bin. Aber bis es soweit ist, muss ich sie davon überzeugen, sie zu ihrer Mum nach Hause zu bringen, die sich bestimmt schon unfassbar große Sorgen um ihre älteste und nun auch einzige Tochter macht. "Vielleicht kann ich dir doch ein Gespräch mit deiner Schwester ermöglichen." Sie glotzt mich an wie ein Auto, das zum Schrottplatz gefahren werden müsste. "Und wie willst du das bitteschön anstellen, wenn ich fragen darf?" Immerhin sind ihre Tränen für kurze Zeit versiegt. "Ich hab da so meine Methoden." "Ich frage dich nocheinmal: Wer bist du, verdammt?" "Wie bereits erwähnt, deine Schwester hat mich gebeten, auf dich aufzupassen." "Wie kann das sein? Rosie ist tot, John! TOT! Soll ich's dir vielleicht noch buchstabieren? Und auch ein liebensewerter Junge wie du kann ein totes Kind nicht auf die Erde zurückholen!" "Du musst mir vertrauen, Claire. Das ist die wichtigste Voraussetzung, damit ich dich zu ihr führen kann."
Sie hat mich liebenswert genannt.
"Ich vertraue dir ja. Das tu ich wirklich! Aber das, was du da von dir gibst, geht über meine Vorstellungskraft und über meinen Glauben, ich weiß nicht, wie ich das machen soll." "Vielleicht sollten wir erstmal deine Mutter aufsuchen, die wird sicher krank vor Sorge." "Ich kann nicht nach Hause, John." "Weshalb nicht?" "Ach, das ist viel zu kompliziert, als dass ich dir das jetzt alles erklären könnte." "Du musst heim. Es geht nicht anders." Sie muss beruhigt werden. Sie und ihre Mutter erst recht. Sie können jetzt nicht alle ausflippen. Es ist traurig, ein Kind zu verlieren, aber danach auch noch seinen Verstand zu verlieren, ist furchtbar. "Ich will nicht heim. Ich kann jetzt nicht zu Mum! Auf gar keinen Fall!" "Du hast keine Wahl! Morgen ist Weihnachten!" "Und was interessiert mich das? Ich habe keine Schwester mehr, John! Verstehst du? Keine! Schwester! Mehr!"
Es wird Zeit, dass ich sie zusammenbringe. Ganz kurz nur. Für ein paar Minuten. Ich lege meine Hand auf ihre Stirn und sie versucht sie wegzuschlagen, doch sie muss schlafen. Schlaf, Claire, damit du ihr begegnest. Mist, ich hätte es üben sollen, ds dauert eine ganze Weile, bis ihre Lider schwer werden und müde zu zucken beginnen. Ich versuche, auf sie einzureden, im Flüsterton. "Es ist das beste für dich. Du brauchst sie jetzt. Sie hat mir damals gesagt, dass ich alles tun soll, damit dir nichts passiert. Damit du dir weder etwas antun kannst, noch deinem Umfeld mehr Trauer bereitest." Ich bete inständig, dass sie meine Worte nicht mehr hören kann, immerhin darf sie das alles jetzt noch nicht genau im Detail erfahren. "Schlaf einfach", murmle ich ihr sanft zu. "Schlafe." Jetzt bedecken ihre Lider die Augen völlig und die Atmung verlangsamt sich zusehends. Zeit für mich, hinterherzugehen.

Sie ist völlig orientierunglos. Kein Wunder, vielleicht sollte ich mal die Hände von ihren Augen nehmen, die ich bedecke. Mein Herz schlägt schneller, als es meine Kontrolle zulässt.
Da vorne steht sie. Wie ich gehofft hatte, sind die Verletzungen an Kopf und Gliedern nicht zu erkennen, die das Auto ihr zugefügt hat.
Claire bewegt sich kein bisschen, wie zur Salzsäule erstarrt steht sie da, vollkommen steif und teilnahmslos. Ich habe sie unter Kontrolle. Allerdings wäre ein Ort mit Anhaltspunkt deutlich vorteilhafter gewesen, sonst hat sie nichts, woran sie sich festhalten kann, sobald sie wieder etwas sieht. Der Moment ist noch nicht da, um den Blick auf die tote Schwester freizugeben. Erst als langsam ein wenig Leben in sie einkehrt, beschließe ich, die Hände runterzunehmen. Scheinbar hat sie die Augen noch immer geschlossen, denn sie steht weiterhin still. Plötzlich zuckt sie so heftig zusammen, dass sie beinahe umkippt, hätte sie sich nicht in meinem Arm wie eine Katze ihre Nägel versenkt. Ich glaube sie hat sie aufgemacht.

"Claire?"

Keine Reaktion. Ist sie jetzt wieder weg oder was?

"Hey! Du hast es dir doch so sehr gewünscht, immer und immer wieder!"

"Aber ich wusste nicht, dass du das kannst. Bin ich jetzt tot?"

"Nein!", kam es eine Spur zu laut aus meinem Mund.

"Aber sie", sie zeigt auf Rosie, die noch immer stocksteif dasteht, wie ihre Schwester vor einigen Sekunden, "sie ist doch tot."

"Das stimmt."

"Aber da steht sie doch!"

Das kann schwierig werden. Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn und ich wische sie mit der freien Hand fort.

"Na los, Claire, sprich mit ihr! Jetzt ist eine mehr als gute Gelegenheit. Ich werde dir schon alles der Reihe nach erzählen."

Ich helfe ihr beim Aufstehen und schiebe sie sanft in Richtung Rosie. Die beginnt nun ganz leicht zu lächeln. So bezaubernd, dass es mir das Herz zerreißen will.

Wie in Zeitlupe bewegt Claire sich auf ihre verstorbene Schwester zu, und als sie endlich direkt vor ihr steht und auf sie herunterblicken muss, fällt sie vor ihr auf die Knie, legt ihren Kopf auf little Rosie's Schulter und beginnt bitterlich zu weinen.

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