{no. 2} John

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Dienstag

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"Scheiße!", ist das erste, das ich wahrnehme, als ich wieder zu mir komme.
Mein Schädel meint, sich in einen Presslufthammer verwandeln zu müssen. Warum müssen mich immer irgendwelche Leute umcrashen? In letzter Zeit ist das ziemlich oft passiert. Meine kleine Schwester rammt mich mit ihrem Dreirad, und meint dabei mit einem den Umständen nicht gerecht werdenden nachdenklichen Gesicht: "Claire, dein Schmerz ist ziemlich blassgrün muss ich sagen."
Sie ist synästhetisch begabt. Wenn man das eine Begabung nennen will. Ich antworte nur mit einem schmerzverzerrten Gesicht: "Danke Rosie, aber dass es wehtut hätte ich dir auch so verraten können. Kurz darauf hat sie sich zwar entschuldigt, davon machte aber das Brennen in meinem Schienbein auch nicht die Fliege.
"Sorry, scheiße das tut mir jetzt echt übelst leid!", flucht und entschuldigt sich nun auch der junge Schlittschuhrennfahrer ein zweites Mal. War wohl nicht allzu lang weggetreten, und versuche auszumachen, ob ich noch alle Körperteile besitze, oder ob der Typ mit den scharfen Kufen mir vielleicht versehentlich einen Fuß abgeschnitten hat. "Ist alles okay mit dir?" Alter, du hast mich gerade gerammt und unter dir begraben wie eine Planierraupe den Schnee. Aber sonst ist alles in Ordnung, danke der Nachfrage.
"Mmhm...", unternehme ich einen ersten Sprechversuch.
"Bist du sicher?"
"M-mh." Doch nicht.
Junge, kann mich mal irgendjemand aufheben? "Sidny?" Toll, ich nuschle.
"Ich bin hier!"
"Oh mann, schrei doch nicht so, mein Kopf ist ne zermatschte Torte. Zumindest fühlt er sich so an." Und prompt bin ich wieder da.
"Sorry."
"Hört auf euch allesamt zu entschuldigen und hebt mich lieber auf, verdammt!" Sie ziehen mich auf die Beine und bei der Gelegenheit merke ich, dass ich zum Glück kein verstümmelter Krüppel bin.
Aber auf dem Eis fließt mein Blut in einer riesigen Pfütze in der Gegend herum und die Leute flitzen darauf herum, als wäre das alles völlig unwichtig. Es wird immer mehr und will überhaupt nicht mehr aufhören zu fließen. Sie verschmieren es mit ihren Kufen und drehen Pirouetten darauf, wie bei einem Wettkampf. Mir wird schlecht.
Und als mein Hirn sich beruhigt hat und der Schwindel vorbei ist, merke ich, dass da gar kein Blut ist, sondern dass ich sehr stark bewusstseinsgetrübt war. Okay Claire, alles wird gut.
"Hey, ich bin übrigens John." Der irgendwie gutaussehende Crasher reicht mir seine rechte Hand und ich versuche sie zu ergreifen. Beim ersten Mal ziele ich ins Leere. Beim nächsten Anlauf klappt's und ich erwidere: "Ich bin die, die du umgemäht hast", und muss ein wenig grinsen. "Wie du siehst hängt meine Koordination noch im Erdkern fest, aber bald müsste sie wieder hier aufkreuzen." "Ich weiß nicht, was ich sonst noch tun soll, außer mich zu entschuldigen", meint er fragend und hebt mich plötzlich hoch, als wär ich nur ne Tasche oder so. "Woah, hey, immer langsam mit den jungen Pferden!"
Hey Leute, ich werde von einem gutaussehenden Typen in Schlittschuhen davongetragen. Achtung, Klischees kommen angeflogen.
Stopp! Der hat dich gerammt! Werd mal nicht so oberflächlich! "Sydney?", rufe ich, weil ich sie schon seit mindestens zwei Minuten nicht mehr in meinem Bewusstseinsfeld habe. "Hier drüben, Clairy", säuselt sie und schrägt mich mit ihrem Blick von der Seite an. Ich versuche wortlos mit meiner Mimik zu ermitteln, was diese komische Grimasse zu bedeuten hat, die es sich scheinbar in ihrem Gesicht gemütlich gemacht hat.
Sie hört nicht auf, so dämlich zu gucken.
"Was hast du denn?" Ich kann nicht mehr an mich halten und jetzt dreht auch John sich zu ihr um. In Bruchteilen einer Sekunde normalisiert sich ihr Gesicht und sie sieht John unschuldig an.
Mittlerweile sind wir in der Garderobe angekommen. Die Lust zum Eislaufen ist mir gründlich vergangen. "Sag mal, hast du eigentlich ne Freundin, John?"
WAS?!
"Wie bitte?"
"Naja, also..."
RETTE DICH, CLAIRE!
Oh mann, Sydneys Schafsblick sagt wieder mal Hi.
"Wenn jemand so aussieht..." Sei einfach still, dann passiert niemandem etwas!
"... wie du, dann hätte ich auch keine Freundin..."
Verbockt.
"Wer sagt, denn, dass ich keine Freundin habe?"
Ups.
"Ich wusste es doch!" "Nein, ähm..."
"Claire. Sorry, hab mich gar nicht richtig vorgestellt. War zu sehr mit meinem Kreislauf beschäftigt." Und mit deinem Gesicht.
"Okay, also, Claire", er betont meinen Namen, als wäre es eine Krankheit, "ich habe wirklich keine Freundin. Und das mit dem Umfahren tut mir ehrlich leid, das habe ich dir ja schon gesagt. Ich habe keinen Schimmer, was ich sonst noch tun könnte, außer vielleicht dich und deine Freundin-" "Sydney!", quiekt sie, "zu einem Kaffee einzuladen. Ist das ein Angebot?"
"Ich nehm's dir ja auch nicht weiter übel, ist schon okay." Wenn man so aussieht wie du, kann man da schonmal drüber hinweg sehen.
"Und das mit dem Kaffee klingt wirklich gut."
"Jetzt gleich?"
"Klar, wenn du willst?"
"Sicher, ich sag nur meinen Kumpels Bescheid, dass ich ein Date hab."
"Spinner!", rufe ich ihm hinterher, als er um die Ecke in die Eishalle verschwindet. Das ist das Stichwort für Sydney. Sie flippt aus. "Ist er nicht supersüß?", quäkt sie mir mitten ins Ohr. "Syd, sogar ein Delphin hat eine niedrigere Frequenz als du. Würdest du bitte mein Trommelfell ganz lassen?"
"Jetzt tu nicht so, als ob er dir nicht gefällt!" "Er ist ganz okay." "Ganz okay? Spinnst du? Er ist der heißeste Typ auf Erden!"
Habe ich schon erwähnt, dass sie manchmal ein kleines bisschen übertreibt?
"John hat mich fast bewusstlos gecrasht, schon vergessen?" Das klingt wie die allerschlechteste Schmalzschleimsoap auf Hartz IV TV. "Das tut doch nichts zur Sache-" "Sei still, er kommt zurück!" Ich greife ihren Arm vielleicht ein ganz kleines bisschen zu schnell, um sie zum schweigen zu bringen.
"Und? Geht das auch wirklich in Ordnung für deine Freunde, dass du jetzt mit uns abhängst? Ich meine, du kennst uns nichtmal richtig." "Das kann man ja bei einem wärmenden Kaffee in den Händen und vielleicht noch ein paar weihnachtlichen Spezialitäten ändern, oder? Und ja, es ist okay für sie. Sie sind ja noch zu dritt, also muss jetzt keiner alleine bleiben."
Warum hat er mir gerade zugezwinkert?
Und als er seine unglaublich weiche Hand auch noch in meine legt, als wäre es das normalste der Welt, hält Sydney es nicht mehr aus und quietscht wie eine zertretene Maus. Sie fängt sich einen bösen Blick meinerseits ein und verstummt dabei, während mein Herz ganz viele kleine Luftsprünge macht. Das einzige was ich tue, ist, es geschehen zu lassen.

Sepia TimesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt