Wunden lecken

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Der Kopf des großen Wolfes ruhte neben Fragas. Der mächtige Körper des Tieres zitterte vor Schmerz und nicht minder zitternd fuhr die Hand des jungen Kriegers durch das dichte Fell. Fragas vermied es über die Schulter zur klaffenden Wunde zu schauen, denn allein der Gedanke daran drehte ihm den Magen um. Lieber sah er apathisch in die Ferne, versuchte seinem treuen Sargis in diesem Moment beizustehen. Drandis war tot, so viele waren tot und wohlmöglich würden viele noch folgen.

Der Clan war in Sicherheit - vorerst.

Asos hatte in seiner Weisheit diese Zuflucht schon lange bevor er zum Alpha wurde errichten lassen. Tiefe Höhlen, die ins Massiv des Berges geschlagen worden waren. Von außen sah man die Eingänge nicht und erst recht, wusste niemand, wo die Ausgänge lagen, jene, die dazu dienten zu fliehen, wenn der Feind in die Höhlen strömte. Auch Fragas hatte ihn immer dafür belächelt, heute dachte er anders. Die Weisheit des Alpha sollst du nie hinterfragen, hieß es in den vielen Lehrsätzen des heiligsten Buches des Kalindris.

»Wie geht es Sargis?«

Fragas schrak aus seinen Gedanken auf, drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam und erkannte Asos. Er wollte aufstehen, doch der Alpha deutete ihm sitzen zu bleiben.

»Er ... hat Schmerzen«, seufzte der junge Krieger. Der alte Mann nickte und setzte sich neben Fragas. »Das spürt und sieht man.«

Fragas brannten so viele Fragen auf der Zunge, aber allein die Tatsache, dass der Alpha zu ihm gekommen war, bedeutete, dass er etwas von ihm wollte und er hatte sich dem Alpha unterzuordnen.

»Drandis wird uns fehlen in den nächsten Wochen«, stellte Asos leise fest. Ein Stich im Herzen ließ den jungen Krieger zucken. Nur leicht nickte er.

»Und die anderen auch«, ergänzte Asos.

»Wie viele sind gefallen?«

Der Alpha griff in seine Tasche, holte ein wenig getrocknetes Kraut heraus und begann darauf zu kauen. Fragas bot er nichts davon an. »Siebenundzwanzig Reiter und dreizehn Wölfe.«

»War es das wert?«, flohen die Worte wie von selbst aus dem Munde Fragas. Er hätte mit Wut und Zorn gerechnet, aber Asos zeigte ruhig hinter sich.

»Das, Fragas, ist alles wert, jedes Opfer. Solange nur ein Kind der Kalhar lebt, haben wir eine Zukunft.«

Es fiel ihm schwer die Worte des alten Mannes zu glauben. »Ich hab gegen sie gekämpft, weiser Alpha. Es waren wenige und doch hatten wir keine Chance.«

»Natürlich hattet ihr die nicht.«

Die Aussage traf Fragas direkt in den Magen, ihm wurde übel und aus dem miesen Gefühl heraus wurde auch Zorn geboren. Er wollte sein Unverständnis erklären, aber Asos kam ihm zu vor.

»Fragas, es war nie das Ziel zu gewinnen, nur um Zeit für die anderen. Unser Clan hat nicht die Macht sich gegen die schwarze Bedrohung, die auf uns zukommt zu wehren.«

»Dann war es also doch umsonst?«

Asos schüttelte den Kopf. »Nein, aber wir müssen handeln. Etwas geschieht und es betrifft nicht allein die Kalhar, sondern alle.«

Fragas verstand die Worte, aber erkannte ihren Sinn nicht in aller Tiefe. »Warum jetzt?«

»Warum kommt der Sommer, dann der Herbst? Warum blühen Blumen im Frühling und warum ist es im Sommer trocken? Es gibt Dinge in dieser Welt, die einem Zyklus unterliegen. Sie werden aus ihrer Welt ans Licht getrieben, nur müssen wir verstehen lernen warum.«

»Aber wie?«

Asos seufzte. »Ich weiß es nicht und doch sind wir nicht hilflos.«

Sonderbarerweise fühlte sich Fragas aber exakt so - hilflos. »Wir sind allein!«

Der Alpha lächelte und seine alten wachen Augen, blitzten lebendig auf. »Nein, Fragas, sind wir nicht. Wir haben die Clans und in diesen Zeiten werden sie zusammenstehen!«

»Ihr wollt Boten schicken?«

»Natürlich und du wirst einer sein!«

Fragas streckte sich. Er als Bote? Es war eine Ehre, egal, zu welch unwichtigem Clan man ihn schicken würde.

»Ein Bote an jeden Clan, noch kann ich keine Reiter entbehren, die die freien Städte oder die Himmelszufluchten aufsuchen. Wirst du meinen Auftrag annehmen?«

Fragas sah zu Sargis. Der Wolf würde den Weg nicht schaffen, nicht so bald zumindest.

»Wohin wollt ihr mich schicken?«

»Zum Donner-Clan!«

Dem jungen Krieger entglitten die Gesichtszüge. Er hatte mit dem Wasser-Clan oder den Silber-Clan, mit seinen glänzenden Silberwölfen gerechnet, zumindest einem kleinen Clan und nicht den mächtigsten und größten Clan in den Wolfsbergen.

»Donner?«, stammelte er. Nie im Leben würde er die Entscheidung des Alphas anzweifeln, aber ihm kam es verrückt vor.

»Ja und frage nicht warum, ich habe meine Gründe«, kürzte Asos jedwede Frage kurzerhand ab.

»Aber Sargis!«, entfuhr es Fargas und streichelte besorgt über das Fell des Kameraden.

Asos verzog das Gesicht, stützte sich an der Schulter des jungen Kriegers ab, um sich zu erheben. »Zyklen, es sind Zyklen. Anfang und Ende, Geburt und Tod. Sargis ist mehr als nur ein Begleiter, ein Freund, verhalte die wie einer!«, wies er ihn an, wandte sich ab und ließ Fragas allein zurück.

Eine Schwere hatte sein Herz ergriffen. Antworten hatte der Alpha ihm nicht geboten, eher waren es nun noch mehr Fragen, die ihn beschäftigten. Der Donner-Clan! Der Name allein verursachte Gänsehaut. Drandis wäre normal die erste Wahl gewesen, aber Drandis war tot. Gab es keinen Besseren? Warum sollte er, ein junger Krieger ohne Meriten Gehör bei den grobschlächtigen Reitern des Donner-Clans Gehör finden?

Glaubte Asos wirklich, dass man zusammenstehen würde? Alle Clans? Es fiel ihm schwer daran zu glauben, waren die vielen Überfälle und Scharmützel der letzten Jahre immer häufiger geworden. Man hatte sich selbst geschwächt, unnötig und stetig, warum sollte man nun noch sich vertrauen können und Seite an Seite in die Schlacht ziehen?

»Was hat Asos mit Zyklen gemeint?«

Erst jetzt wurden ihm die letzten Worte des Alphas bewusst. Sargis jaulte und begann zu hecheln. Sein Atem ging schnell und immer wieder wurde sein gesamter Körper von einem krampfhaften Zittern überzogen. Fragas nahm seinen Mut zusammen und wandte den Blick weiter zurück und auf die Wunde des Wolfes. Tapfer sah er die Pein, das Blut und kämpfte gegen die Tränen an. Sei ein Freund, hatte Asos gesagt, was würde er von einem Freund erwarten? Beistand, Treue bis in den Tod.

Traurig umschlang er den Hals des Wolfes, drückte ihn an seine Brust. Er hatte den Alpha verstanden. Liebevoll streichelte er den Schädel von Sargis, kraulte über die Schnauze des Tieres, wie er es immer geliebt hatte. Ein letztes Mal sah er in die Augen des treuen Reittieres und die Tränen flossen wie von selbst über Fragas Wangen. Sein Brustkorb bebte, als seine Hand an die Seite glitt und die unterarmlange Klinge zog.

»Leb wohl mein Freund«, flüsterte er leise. Dann ging es schnell, ein Hieb, ein kurzes Aufjaulen, welches kurz danach erstarb. Fragas wandte sich ab, ließ den Kopf des toten Sargis zu Boden sinken und kroch von dem Leichnam fort.

Der Schmerz in ihm drohte ihn zu zerreißen, bebend riss er die Arme in die Lüfte und stieß ein Jaulen an. Langgezogen und klagend hallte es zwischen den Felsmassiven hin und her und hallte immer wieder nach. Er war sich darüber im Klaren, dass er keine Wahl gehabt hatte, dass sein Tun richtig gewesen war, aber es minderte den Schmerz nicht. Abermals stieß er seinen Ruf aus und noch einmal, bevor er nach vorn auf den Felsen sackte.

In dem Moment, als das letzte Echo verhallte, bekam er Antwort. Ein Wolf stimmte in seinen Schmerz mit ein und schickte seine eigenen Worte zu Fragas. Dann folgte ein weiterer, noch einer, bis es schien, als würden die gesamten Wolfsberge in einem jaulenden Chor einstimmen. Er hob den Kopf, sah sich vorsichtig um. Niemand rührte sich mehr, die Wachen, die nicht weit weg standen, waren stehen geblieben.

Dann sah Fragas den Wolf, der aus dem Schatten der Felsen getreten war und ihn stumm anstarrte.


Seelenkriege I - Kaiser und DracheWhere stories live. Discover now