Sabia

211 29 12
                                    

Jalia fiel. Immer schneller und schneller raste sie durch die Wolken. Der Wind biss vor Kälte. Der Tag war gekommen, und als sie die letzten grauen Schleier des Himmels hinter sich ließ, blitzten die goldenen Strahlen wärmend von Osten her auf. Die junge Inari riss die Augen auf. Es war ein Anblick, den sie so nie erlebt hatte. Sie fühlte sich leicht, schwerelos, und als sie ihre kräftigen Schwingen ausstreckte und spürte, wie die Luft sich unter ihnen sammelte und der Fall allmählich in ein Gleiten überging, hüpfte ihr Herz vor Freude.

Vergessen waren die Zweifel oder die Sorgen, was ihr Vater wohl sagen würde. Sie lehnte sich nach rechts, gönnte ihren Flügeln einen Moment der kitzelnden Wärme der Sonne und flog eine langgezogene Kurve. Sie wusste, dass ihr Ziel im Südwesten lag und nun war es leicht die Richtung zu finden. Warme Winde gaben ihr wieder Auftrieb, hoben sie in die Höhe, so dass es in ihrem Magen kitzelte. Jalia lachte. Die letzte Nacht, die Müdigkeit fiel wie von selbst von ihren jungen Schultern.

Voller Neugierde sah sie zu Boden. Sie erkannte Wälder, vereinzelte Häuser und Herden von Vieh, die auf Weiden grasten. Hier war ein See und dort ein Fluss, der sich durch die Landschaft schlängelte. Sah sie nach vorn, erkannte sie bereits das intensive Blau des Meeres und dort an der Küste war ihr Ziel - die freie Stadt Sabia.

Je näher sie der Stadt kam, desto mehr kamen Zweifel auf. Warum sollte man auf eine junge Inari hören und was sollten die Menschen dort überhaupt gegen die drohende Gefahr tun? Skeptisch sah sie in Richtung der Wolken und haderte mit sich selbst.

Nein - sie würde nicht umkehren, nicht zurück in die Wolkenzuflucht fliegen. Ihr Entschluss war gefallen und sie war stur genug, diesen umzusetzen.

Zwei kräftige Flügelschläge hoben sie wieder höher in die Luft, trugen sie der Stadt immer näher.

Was wusste sie überhaupt von Sabia? Sie glaubte, dass die Stadt von einem Rat, ähnlich dem der Inari, regiert wird. Zumindest hatte sie ihren Vater mal belauscht, als er darüber gesprochen hatte. Jeder Inari in Falria kannte und liebe Jalia. Warum sollte sie Probleme haben, jemanden zu finden, der ihr half?

Sie flog immer noch in großer Höhe, nutzte den Auftrieb und sparte ihre Kräfte. Sie flog, als hätte sie nie etwas anderes getan.

Sabia war gut befestigt. Hohe, massive Mauern und noch höhere Türme schützten die Einwohner vor ihren Feinden. Direkt vor dem Mauern hatten die Bewohner einen Fluss geleitet und als Wassergraben fungierte. Die Tore besaßen Zugbrücken und vor diesen noch kleine Torbefestigungen, in denen die ankommenden Händler kontrolliert wurden, bevor man sie in die Stadt ließ. Jalia kreiste mittlerweile hoch über der Stadt. Sie suchte etwas, das nach einem Ratsgebäude aussah und ihre ausgezeichneten Augen halfen ihr dabei.

Zur Küste hin lag der Hafen. Zahlreiche Schiffe lagen dort vor Anker. Wie bunte Ameisen wirkten die Menschen dort, wenn sie die Ladung eines Schiffes löschten oder winkten, weil eines in See stach. Wie weiße, strahlende Schwingen, dachte Jalia, als sie ein paar Schiffe erkannte, die Kurs auf die offene See nahmen. Allmählich sank sie tiefer.

In der Mitte der Stadt glaubte sie ein Haus entdeckt zu haben, welches prachtvoll genug schien, die Regierung der Stadt zu beherbergen. Die Dächer glänzten in warmen Rottönen und die sandsteinfarben Häuser wirken so fremd und doch einladend freundlich. Alles wirkte friedlich und ruhig.

Etwas Schwarzes zischte an ihr vorbei. Jalia stutzte. Verwirrt sah sie nach oben, aber nichts war zu erkennen. Sie schlug kräftig mit den Flügeln, um in der Luft zu schweben. Die Stadt war in etwa hundert Schritte unter ihr, vielleicht weniger und auf den Mauern sah sie viele glänzende Rüstungen aufgeregt hin und her laufen. Sie legte die Stirn in Falten und überlegte.

Von einem der Türme drangen Rufe an ihre Ohren und kurz danach schoss abermals etwas Schwarzes auf die zu. Dieses Mal erkannte sie, woher es kam und was es war! Eine Speerschleuder! Die Menschen dort schossen auf sie!

»Was soll das?«, schrie sie ihnen entgegen und wich dem Schuss aus. Sie musste zu diesem Rat und das schneller als gedacht, hier in der Luft wurde es zu gefährlich!

Sie legte die Flügel an, schoss wieder hinab in die Tiefe und flog dicht über die Dächer in Richtung des prunkvollen Hauses in der Mitte. Schreie brandeten auf, Panik auf den Straßen, wobei Jalia sich fragte, wovor die Menschen eine solche Angst hätten. Aus den Augenwinkeln entdeckte sie eine Reihe von glänzenden Soldaten, die auf der Mauer aufgereiht standen. Ihr Herz schien stehen zu bleiben, als sie entdeckte, was die Männer in der Hand hielten. Sie wollte aufsteigen, schlug mit ihren Schwingen und spürte nur einen Moment später einen stechenden Schmerz in ihrem Flügel.

Sie verlor das Gespür für den Flug, drehte sich um sich selbst und fiel! Schützend hielt sie die Hände vor ihr Gesicht, schlug durch das Dach eines Hauses und schrie vor Schmerz auf, als sie auf dem Boden aufschlug und durch das Zimmer rollte, bevor sie an der Wand liegen blieb.

Ihre Flügel zitterten und gepeinigt sah sich die junge Inari um. Sie wimmerte, versuchte sich aufzustemmen, die Arme knickten aber umgehend wieder weg und sie sackte in sich zusammen.

Ihre Sinne schwanden, sie nahm nur noch verschwommen war, wie jemand in das Zimmer eilte. Kaum mehr verstand sie die Worte des Mannes.

»Beim grauen Drachen, was ist passiert?«

Die Stimme klang warm, beinahe vertraut, auch wenn sie dies nicht sein konnte, aber Jalia klammerte sich an das Gefühl, hob den Kopf und drehte die Schulter so, dass er den Bolzen in ihrem Flügel erkennen konnte.

»Helft mir ... bitte!«, stammelte Jalia, streckte die Hand nach dem Fremden aus und brach zusammen.




Seelenkriege I - Kaiser und DracheWhere stories live. Discover now