Fliegende Augen

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Ein leichter Wind wehte durch die nächtliche Stadt. Die Sterne funkelten am Himmel, während ein paar Wolken unter der Stadt entlangzogen. Es war friedlich, aber das war es im Grunde ja immer. Jalia saß am Fenster und hatte das Kinn auf ihre Hände gebettet. Ihre wachen gelben Augen leuchteten und starrten verträumt in einer der Gassen der Wolkenzuflucht hinab. Noch nie hatte sie etwas anderes gesehen, als diese Stadt, nur Geschichten gehört und seitdem sie denken konnte, hatte sie den Tag entgegengefiebert, wenn sie endlich fliegen durfte. Morgen Abend, dachte sie und schloss die Augen.

Wie es wohl war - fliegen. Langsam legte sie den Kopf schief, streichelte mit der Wange über die Spitzen ihrer schwarzen Flügel. Morgen war der wichtigste Tag im Leben einer Inari. Es war der Moment, indem man die Kindheit ablegte, die Flügel ausbreitete und flog - oder eben nicht. Was würde geschehen, wenn sie eine flügellose war? Was würde ihr Vater sagen? Immerhin war ihr Vater einer von fünf Klingen im Rat. Die Flügellosen hatten nur einen Sitz.

Jalia drehte den Kopf weiter, sah in ihr Zimmer und strich dann über ihre Federn.

»Enttäuscht mich bitte nicht«, hauchte sie leise und es war mehr wie ein Wunsch. So sehr sie sich auf diesen Tag gefreut hatte, so viel Angst hatte sie auch vor ihm und doch hatte sie davon geträumt über die Wolken zu fliegen, die anderen Wolkenzufluchten zu sehen und zwischen allen Sechsen hin und herzufliegen. Jalia träumte oft, auch davon, wie es sein würde durch die Wolken auf die Welt unter sie zu fliegen. Wie waren die Städte dort?

»Jalia?«

Mit der bekannten Stimme ihres Vaters wurde zweimal an ihre Tür geklopft und ohne weiter zu warten, trat er ein. Jalia wandte sich vom Fenster ab, bettete die Hände auf ihren Schoss und lächelte. Sie trug nur das weiße Nachthemd, welches bis über die Knie reichte und sah zu ihrem Vater auf. Er war größer als die meisten Inari, niemand hätte größere Schwingen und keiner flog schneller oder solche Manöver wie ihr Vater. Ja, man konnte sagen, sie bewunderte ihn, aber das war auch ein Fluch zugleich, denn sie hatte große Angst seine Erwartungen nicht erfüllen zu können.

»Nervös wegen Morgen, Jalia?«

Sie schüttelte den Kopf, seufzte und nickte schließlich. »Ja, doch schon ein wenig«, gab sie zu. Langsam kam ihr Vater auf sie zu, so dass sie ihren Kopf weit in den Nacken legen musste, um ihm ins Gesicht zu sehen. Sie hätte es zeichnen können, ohne es zu sehen, sie kannte den feinen Bart, den er immer so ordentlich stutzte. Er kannte die kleinen Falten an seinen Augen, wenn er lachte und die lange Nase mit dem kleinen Höcker. Sein Haar trug er offen und es reichte in Locken bis auf seine Schultern hinab.

Mit einem Seufzen setzte er sich neben Jalia auf das Sims, nahm ihre Hand und legte sie in seine. Jalia sah zu ihm. In der großen kräftigen Hand wirkten ihre kleinen zarten Finger noch viel zerbrechlicher als sonst.

»Was ist, wenn ich nicht fliege?«, sprach sie ihre Angst aus und sah sogleich an ihrem Vater vorbei zur Tür. Väterlich berührte jener das Kinn seiner Tochter und richtete es wieder so aus, dass sie ihm in die Augen sah.

»Dann werden die Flügellosen eine sehr besondere Inari bekommen.«

Wäre er wirklich nicht enttäuscht? Unsicher sah sie an sich hinab.

»Ich will aber die Welt sehen!«, flüsterte sie leise.

»Dann wirst du sie auch sehen, Jalia. Der Wille ist die Basis, der Rest kommt von allein und ist Instinkt!«

Sie empfand anders. Ihre Gefühle spielten verrückt, wenn sie an den morgigen Tag dachte. Besorgt biss sie sich auf die Lippen und schloss die mandelförmigen Augen. Inari hatten besonders gute Augen, sie sahen am Tag auch auf weite Entfernungen sehr gut und in der Nacht fast noch besser. Ihre Pupillen waren spaltförmig, ähnlich denen von Katzen und verengten sich beinahe zu Strichen im hellen Sonnenlicht. Ihr Vater hatte goldbraune Augen und sie funkelten im Licht des Tages wie Edelsteine.

Seelenkriege I - Kaiser und DracheWhere stories live. Discover now