Kapitel 20 - Dieser Kerl

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Mein Herz setzt für einen kurzen Moment aus, als Harry in die Straße meines Zuhauses fährt. Das Tor steht offen und gerade Grandma entdeckt uns als erstes. Sie stehen alle dort im Hof und sehen zu, wie Harry vor dem Tor hält. Mein Puls steigt, als ich in das Gesicht meiner Mutter sehe. Ihr ist das Entsetzen stetig ins Gesicht geschrieben. Ich, ohne Helm, mit noch halbnassen Haaren auf einem Motorrad. Mit einem Jungen. Und dann auch noch mit Harry. Ich bete zu Gott, dass sie ihn nicht erkennt.

„Marie!", ruft meine Grandma und kommt als erstes zu mir, als ich gerade von dem Motorrad steige. Sie versucht sich mit ihren halbhohen Schuhen in dem Kies zu arrangieren und nicht mit ihren, mit der weißen Strumpfhose bekleideten Knöcheln, umzuknicken. Mal wieder trägt sie einen Rock, egal wie kalt es ist. Oma ist eine Lady, sagt sie immer, Klasse muss sein.

„Hallo Oma", grüße ich sie und stelle mich schon auf das Schlimmste ein. Mama, Papa und Grandpa folgen ihr im Eilschritt, keiner von ihnen sieht glücklich aus.

„Was hast du denn da an?", nörgelt Oma und zupft angewidert an dem schwarzen T-Shirt von Harry. Es ist ihr egal, ob ich friere, sie sieht nur, dass mein T-Shirt keine Farbe hat und mir nicht passt. „Und deine Haare! So kommst du zu einem Familienessen?"

Noch bevor ich mich erklären kann, kommt Mama. „Honor, bist du lebensmüde? Du hast ja kaum was an und dann fährst du auch noch auf so einem Ding mit!" Außer sich zeigt sie auf Harrys Motorrad, der gerade seinen Motor wieder startet, um abzuhauen. Ist wahrscheinlich auch besser für ihn.

„Hey, du brauchst gar nicht abzuhauen!", ruft mein Vater wütend zu Harry, worauf Harry wieder genervt stöhnend den Motor abschaltet. „Es ist sehr unverantwortlich Sarah ohne Helm umherzufahren!"

„Papa, ich heiße Honor", melde ich mich kleinlaut zu Wort und schäme mich vor Harry für meine Familie. Sie behandeln mich wie ein Kleinkind. Mal wieder.

„Und dazu noch im Winter!", schimpft meine Mutter wieder. „Die Straßen sind glatt und rutschig! Du hättest ihr wenigstens deinen Helm geben können oder bist du dir dafür zu fein?"

Ich blicke sie empört an. „Mama!"

„Nein, deine Mutter hat Recht", nörgelt jetzt meine Oma wieder und inspiziert noch immer mein Outfit. „Lass mich raten. Das sind seine widerwärtigen Klamotten?"

Ich reiße ihr das Stück Stoff aus der Hand, das sie erneut mit angeekeltem Gesicht zwischen ihre alten Finger genommen hat. „Na und? Sie sind sehr bequem und außerdem hätte ich sonst mit nassen Klamotten fahren müssen!"

Harry gibt sich im Hintergrund wieder zu erkennen. „Muss ich mir die Scheiße echt antun?", ertönt seine tiefe Stimme durch den Helm.

Jetzt schaltet sich Grandpa ein und sagt die Worte, die ich heute eigentlich nicht mehr hören wollte. „Harry? Bist du's? Ich wusste doch, dass ich das Motorrad schon mal irgendwo gesehen habe!"

Ich sehe, wie meine Mutter verwirrt blinzelt. Nein, bitte denk nicht zu viel über diesen Namen nach, Mama. Es wäre besser, wenn sie nicht wüsste, dass dieser Harry der Harry ist.

Harry zieht widerwillig seinen Helm ab und schüttelt die Hand, die mein Grandpa ihm hinhält.

„Moment mal", sagt meine Mutter jetzt und kommt einen Schritt näher auf Harry zu.

Ich kneife hoffnungsvoll die Augen zu. Bitte lass das jetzt nicht geschehen.

„Harry? Harry Styles?", fragt sie.

„Ja", antwortet mein Opa. „Er arbeitet bei mir im Hotel."

Kurz herrscht komplette Stille, in der ich stumm meine Gebete spreche.

„Honor, du wirst sofort nach drinnen kommen", befiehlt meine Mutter jetzt und ich bin mir sicher, dass sie sich ganz genau an Harry erinnert.

Ich sehe sie an. „Wieso?"

Ihr Blick zerfleischt mich. „Weil ich nicht dulde, dass du mit so einem Jungen unterwegs bist. Deswegen. Und jetzt geh rein."

Ich runzle die Stirn. „Was? Du kannst mir doch nicht befehlen, mit wem ich unterwegs bin und mit wem nicht."

„Ich kann dir aber befehlen, dass du dich von solchen grotesken Gestalten wie ihm fernhältst."

Mir klappt die Kinnlade nach unten und ich sehe sie entsetzt an. So redet sie über Harry? Über einen Jungen, den sie nicht mal kennt? „Wie kannst du so über ihn reden?", frage ich sie geschockt.

Sie kneift ihre Augen zusammen. „Honor, diskutier nicht mit mir. Er ist schlecht und das weißt du, das war er schon früher. Also vergessen wir jetzt einfach diese Sache und gehen rein. Du holst dir noch eine Erkältung mit den nassen Haaren."

Ich schüttle unglaubwürdig den Kopf. Sie kann mir viel befehlen und ich lasse mir auch den Hausarrest gefallen, aber es stört mich, dass sie so über Harry redet. Und es stört mich, dass sie meint, mir zu befehlen, mit wem ich etwas zu tun habe und mit wem nicht. „Hör auf so über ihn zu reden", gebe ich deshalb zornig zurück.

„Widersprich nicht deiner Mutter, Marie", mischt sich meine Grandma wieder ein und zieht mich an meinem Ärmel in Richtung Haus.

Doch ich ziehe mich zurück. „Hört auf mich zu behandeln wie ein Kind! Ich kann in der Kälte stehen bleiben, wenn ich das möchte!"

„Honor, sei nicht dumm", sagt meine Mutter. „Sag diesem ... diesem Kerl er soll nach Hause fahren oder wo auch immer er lebt und morgen werden wir ihm seine Klamotten zurück bringen, denn du wirst sie nicht behalten. Wer weiß, was er damit angestellt hat."

Fassungslos starre ich sie an. Ich weiß, dass meine Mutter ihn nie leiden konnte, doch dass sie so abwertend über ihn redet, hätte ich niemals gedacht. Sie ist gerade widerlich, nicht er. Er sollte das nicht hören. „Wieso redest du so wiederwertig über ihn?", schreie ich fast. „Er hat niemanden etwas getan! Er hat mich sogar nach Hause gebracht!"

Noch bevor meine Mutter zurückschreien kann, mischt sich mein Vater ein. „Sarah, Diana, bitte beruhigt euch einfach. Lasst uns reingehen und essen. Wir können später darüber reden."

Ich presse unglücklich die Lippen aufeinander und sehe ihn an. „Ich heiße Honor, Papa! Honor!" Dann sehe ich wieder zu Mama. „Und du entschuldigst dich bei Harry!"

Mama hebt belustigt die Brauen. „Mich entschuldigen? Ich denke nicht, dass er etwas wie eine Entschuldigung verdient hat, Liebling."

Nach einer kurzen Denkpause, sage ich: „Entweder du entschuldigst dich bei ihm oder ich werde wieder mit ihm wegfahren."

Ich höre, wie Harry sich hinter mir bewegt, denn der Kies unter seinen Füßen knarrt und sehe, wie Mamas Belustigung aus ihren Augen schwindet.

„Honor, spiel keine Spielchen", warnt sie. „Geh jetzt ins Haus."

„Entschuldige dich bei ihm", zische ich, mutiger, als ich es je vor ihr und allen anderen war.

Doch sie starrt mich nur abwartend an, was mir ein Zeichen gibt, dass sie sich nicht bei Harry entschuldigen wird. Sie denkt also immer noch so schlecht von ihm, glaubt, er will mir etwas schlechtes. Ich konnte nie ganz nachvollziehen, wieso sie ihn so gehasst hat, denn er war immerhin damals ein kleines Kind. Er könnte heute eine ganz andere Person sein, wieso denkt sie immer noch so?

Ohne viel zu überlegen schmeiße ich meine Klamotten auf den Boden, schnappe mir meinen Violinenkoffer und steige auf Harrys Motorrad. „Bitte fahr weg", bitte ich ihn inständig.

„Komm da sofort runter!", brüllt meine Mutter und kommt auf mich zu.

„Bitte", sage ich noch schnell zu Harry, worauf er schnell losfährt, noch bevor meine Mutter mich vom Motorrad ziehen kann.


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