1. Kapitel

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„Natalia. Was siehst du, wenn du in den Spiegel schaust?", fragte mich mein Psychiater.
Bevor ich in den Spiegel vor mir blickte, sah ich mich im Raum um. Ausser mir und meinem Psychiater Mr. Jenks waren noch weiter neun Personen in diesem Zimmer: Mein Arzt John, meine Eltern, die früher von ihrer Geschäftsreise zurückgereist waren - nur meinetwegen - meine Mum weinte bitterlich, meine fünf Brüder - Kyle, Aiden, Dylan, Meik und Mason -, sie alle hatten ebenfalls Tränen in den Augen, und zum Schluss noch meine grosse Schwester Atlanta, die sich an die Brust meines ältesten Bruders Kyle gedrückt hatte und ebenfalls weinte, fast schlimmer als Mum.
Wir befanden uns in meinem Krankenzimmer in der Klinik Emily's Home. Ich hatte ein Zimmer ganz für mich alleine. Mit einem grossen Krankenbett und die dazugehörigen Apparate, einer Gitarre und einem Klavier, das mir meine Eltern geschenkt hatten. Sie wollten mir eigentlich einen Flügel kaufen, aber den hätte man schlecht hier hin transportieren können. Ausserdem wollte ich das nicht.

Dann sah ich endlich in den Spiegel. Und ich sah... Mich.

Ich stand da mit einem einfachen weissen Top und einer weissen Unterhose.
„Natalia. Was siehst du?", wiederholte Mr. Jenks seine Frage.
Ich zögerte und begutachtete mich von Kopf bis Fuss.
„Ich sehe ein 15 einhalb Jahre altes Mädchen", begann ich,„das 1,65m gross ist, und im Moment nicht mehr als 35 Kilogramm auf die Waage bringt. Dieses Mädchen hat lange, schwarze, kruselige und glanzlose, pechschwarze Haare und eisblaue Augen. Das bin ich. Ich bin in meiner Familie die einzige mit schwarzen Haaren und blauen Augen. Die anderen haben entweder blonde Haare oder braune mit grünen Augen. Ich trage eine Brille und eine Zahnspange. Habe eingefallene Wangen und schreckhaft dünne Arme. Meine Beine sind nicht wirklich besser.
Ich bin krank.
Ich bin ein Mädchen, das seit seiner Geburt im Krankenhaus oder in der Klinik lebt. Das seine Lebensfreude schon vor einigen Jahren verloren hat.
Im Moment hält nur meine Familie und die Musik mich am Leben... Gitarre spielen... Klavier spielen... Und singen.
Früher habe ich viel getanzt. Ich liebte es. Und surfen auch. Obwohl wir hier in Poenix nicht einmal ein Meer haben.
Ich bin ein Mädchen, das seiner Familie nur Kummer bereitet. Und ich bin todkrank."
„Ist das alles, was du siehst?", wollte Mr. Jenks weiter wissen.
„Ich kann Ihnen sagen, was ich NICHT sehe... Eine Zukunft. Eine Zukunft in der ich glücklich sein kann, ohne um mein Leben zu fürchten", antwortete ich mit brüchiger Stimme.
Im Spiegel sah ich jedes einzelne Familienmitglied an. Ich war das jüngste. Alle weinten nur wegen mir. Weil ich seit meiner Geburt an der seltensten Krankheit litt, die auf der Welt bekannt war.
Im Moment waren wir zu acht. Ich war die dritt älteste.
Als ich zur Welt kam, waren wir zu zehnt. Alle älter als ich es war. Sieben von uns starben seither im alter von 16 bis 18 Jahren. Und um die beiden älteren Kinder stand es gerade auch nicht so gut. Schlimmer als um mich.
Ich machte mir nie die Mühe mir den Namen meiner Krankheit zu merken. Deshalb nannte ich sie einfach 'die Krankheit'. Das war das einfachste für alle.

Ich besass die Krankheit schon seit meiner Geburt. Das war irgend so ein bescheuerter Gen-Deffekt. Anfangs wuchs ich gar nicht. Dann wuchs ich viel zu schnell und mein Körper entwickelte sich nicht richtig, was jetzt zur folge hat, dass ich irgendwie nicht mehr fruchtbar war. Mein Zyklus ist total unregelmässig und einfach nur seltsam...
Später, ungefähr im Alter von sechs oder sieben Jahren verfärbten sich meine Augen von ozeangrün zu eisblau. Und kurz darauf wurden meine ursprünglich blonden Haare zuerst braun und dann pechschwarz. Als nächsten kam mein nun grösstes Problem: Die dramatischen Gewichtsveränderungen. Ich konnte eine Weile um die 50 Kilo schwer sein und innerhalb von eineinhalb Wochen gleich 20 Kilo weniger auf den Rippen haben. Das war nicht nur extrem unangenehm, sondern auch lebensgefährlich für mich. Mein Körper konnte in dieser Zeit die wichtigsten Dinge wie Vitamine etc. nicht mehr aufnehemen. Nach ein bis zwei Wochen war das aber meistens wieder gut, doch dieses Mal wollte es einfach nicht besser werden. Was allen in diesem Raum nur Sorgen macht. Ausser mir. Ich hatte mich bereits aufgegeben. Dies sagte ich natürlich nicht. Meine Familie würde es umbringen das zu hören. Sie glaubten und hofften nämlich auf ein Wunder.

Alive - Wie er mir half zu lebenWhere stories live. Discover now