Kapitel 5 - Vollmond

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Übelkeit weckte ihn. Sein Kopf dröhnte wie das Innere einer Kirchenglocke um Mitternacht. Er kroch ins Bad und übergab sich. Er erinnerte sich nur undeutlich an die Taxifahrt, und er konnte sich nicht erklären, wie er in sein Bett gekommen war. Vor der Kloschüssel sank er zusammen. Schmerzen zogen durch seinen Unterleib, und er krümmte sich mit einem Keuchen wie ein Erdnussflip. Er wartete die Schmerzwelle ab, die durch ihn hindurch rollte. Heute war die erste Vollmondnacht. Er fluchte durch die Zähne und rappelte sich auf. 

Der Blick in den Spiegel bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen: Er sah übel aus. Blut und Dreck machten sein Gesicht unkenntlich. Seine Nase schmerzte höllisch und sah schief aus. Seine linke Gesichtshälfte war aufgeschürft, und er hatte eine Platzwunde an der Stirn. Seine Mutter durfte ihn auf keinen Fall so sehen. 

Vorsichtig tastete er seine Nase ab. Sie war gebrochen. Er nahm sie in beide Handflächen und richtete sie mit einem Ruck wieder an ihren Platz. Den Trick hatte er im Knast gelernt. Er griff zu einem Waschlappen, tränkte ihn unter fließendem Wasser und tupfte sich das Blut aus dem Gesicht. 

Sein Bart war über Nacht auf fünf Millimeter nachgewachsen. Kurz vor den Wolfsnächten war Rasieren vergebens, ganz egal, wieviel Wolfskrauttee er in sich hineinkippte. Ihm waren eindrucksvolle Koteletten gewachsen, noch nicht im Louis-Style, aber sehenswert. Ratlos holte er den Rasierer und die Creme aus dem Schrank, musterte ihn und stellte dann beides wieder zurück. 

»Adrian?«, hörte er seine Mutter von unten rufen, »Bist du wach?«

»Ja, ich komm gleich«, rief er heiser. Er hustete.

»Hast du dich erkältet?«

»Nein, alles gut.« 

Er drehte die Dusche auf, zog sich unter Schmerzen aus, stellte sich unter das Wasser und versuchte, sich aufs Atmen zu konzentrieren. Sein Körper war übersät mit Blessuren und mit Csillas Duft, den er von sich wusch. 

Zu allem Übel lagen die Wolfsnächte vor ihm: Drei Nächte lang war er ihrem Rhythmus unterworfen. Normalerweise unterdrückte er die Verwandlung mit einem Trank auf der Basis von Wolfskraut, aber sein Vorrat ging zur Neige und er hatte kein Geld, um Neues zu kaufen. Er fluchte laut und schlug in plötzlicher Wut gegen die Fliesen, die unter dem Einschlag brachen. Adrian starrte den Riss an. Blut floss in einem dünnen Rinnsal die Wand hinab.

»Scheiße«, fluchte er. 

Den Schaden würde er dem Vermieter melden müssen. Und seiner Mutter. Er fluchte erneut. Seine Hand blutete. Er hielt sie unter das Wasser, um das Blut abzuspülen. Es dauerte keine Minute, bis die Wunde sich schloss, eine Nebenwirkung der Wolfswerdung. Er stellte das Wasser ab und stieg aus der Dusche.

Schmerz zog wieder durch seinen Unterleib und zwang ihn in die Knie. Eine Welle von Krämpfen zog durch seinen Körper. Seine Hände krallten sich in den schäbigen Badezimmerteppich. Woge um Woge ging durch ihn und ließ ihn zitternd und kraftlos zurück. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob andere Werwölfe ähnliches durchmachten und wie sie diese Tortur überstanden. Bei Léon sah es so leicht aus. Er selbst litt jedes Mal Höllenqualen ab einer Woche vor Vollmond. 

Er zog sich wieder auf die Beine und betrachtete sein Spiegelbild. Das Blut war fortgewaschen, aber die Hämatome würden noch eine Weile zu sehen sein. Seine Augen waren blutunterlaufen und lagen in schwarzen Höhlen. Einzig die Koteletten ließen ihn älter und wilder aussehen – ein bisschen wie Wolverine aus seinem Lieblingscomic, fand er. Er zeigte seinem Spiegelbild die Zähne und knurrte probehalber. Blut rauschte durch seine Adern. Ihm wurde heiß.

Er lief zurück in sein Zimmer und zog sich eine saubere Jeans, ein Iron-Maiden-T-Shirt und einen Hoodie an. Sein Blick fiel auf seine Wolfskrautpflanzen auf der Fensterbank. Eine war vertrocknet, die anderen abgeerntet. Im Gefängnis war ihm die Pflege besser gelungen. 

Der Kuss des Mondes - Darkadier-Chroniken: Bethlen-Wölfe 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt