Prolog | Der Tag, an dem Alles begann

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"Can we pretend that airplanes
in the night sky are like shootin' stars
I could really use a wish right now"

(Airplanes, Song by B.o.B)

Im Schutz der Dunkelheit einer lauen Sommernacht bewegten sich zwei Fahrräder beinahe geräuschlos den sandigen Weg zu den Klippen der darunterliegenden Piratenbucht hinauf. Natürlich gab es heute keine Piraten mehr, doch die spitzen Felsnadeln, die aus dem Wasser ragten und auch unter der Oberfläche schon so manches Schiff aufgeschlitzt hatten, waren in früherer Zeit ein Grund gewesen, dass Gauner und Piraten die Handelsschiffe in dieses gefährliche Gebiet gedrängt hatten. Wenn diese weder vor noch zurück konnten, ergaben sie sich entweder freiwillig den Freibeutern, oder versanken auf ihrem eigenen Schiff im Meer.

Als irgendwann der erste Leuchtturm auf den Klippen erbaut wurde, ging die Zahl der Schiffsunglücke deutlich zurück, doch der Name der Bucht blieb. Den Leuchtturm nannten die Seeleute nur Miracle Sting, da er sich wie eine wundersame Nadel über dem Ocean erhob und die Schiffe vor dem Überfall der Piraten schützte.

„Dauert es noch lange, Bob?", fragte der ältere Junge, der den letzten Kilometer auf dem schmalen Fußweg hinter dem jüngeren hergefahren war.

„Es ist nicht mehr weit, Peter! Hinter dieser Böschung liegt der Eingang zum Leuchtturm!", antwortete der kleinere, als er sich schon anhielt und vom Sattel seines Rades abstieg.

„Mussten wir ausgerechnet in der Nacht hierherkommen", fragte Peter etwas nervös, während der sich die roten Haare aus dem Gesicht strich. „Hättest du mir das nicht auch morgen zeigen können?"

„Aber Peter", sagte der Blondgelockte amüsiert, „das, was ich dir zeigen will, kann man nur nachts sehen. Komm schon! Sei nicht so ängstlich!"

„Na schön", schnaubte Peter und zwängte sich hinter Bob durch das Loch im Maschendrahtzaun. Nacheinander stiegen sie den nur halbherzig abgesperrten Leuchtturm bis zur Plattform hinauf.

„Ist die Aussicht nicht herrlich?" Bob war flink wie ein Äffchen die metallene Leiter bis zur Spitze geklettert. Und obwohl Peter als Sportler topfit war, musste er sich überwinden, die mehr als zehn Meter hohe Leiter hinaufzusteigen. Er war froh, als er endlich oben war.
„Es war die Mühe wert", gab er dennoch zu.

Die Jungen saßen dicht beieinander an der Brüstung des Leuchtturms, ihre Beine mutig über dem Abgrund baumelnd. Vor ihnen erstreckte sich fast schon bedrohlich die schier undurchdringliche Dunkelheit, des Meeres, welche am Horizont nahtlos in die des Himmels überzugehen schien. Die Laterne des Turms war längst erloschen, und ihr schwarzer Schatten ragte unheimlich gegen den sternenübersäten Himmel. Bob, der die Dunkelheit schon immer auf eine Weise genossen hatte, die er nur schwer in Worte fassen konnte, fühlte sich in ihr jedoch wohl und geborgen.

Peter hingegen schien es sehr zu beruhigen, dass die Himmelskörper ihnen zumindest ein wenig Licht in der Finsternis spendeten. „So viele Sterne", staunte er beeindruckt, als er nach oben blickte. „Ob man die alle in einer Nacht zählen könnte?", dachte er laut.

Bob lachte leise. Er schätzte, dass in dieser Nacht etwa einige Tausend Sterne zu sehen waren. Sie alle zu zählen wäre eine wahre Mammutaufgabe. „Vorausgesetzt, dir frieren nicht vorher die Finger ab", schmunzelte er, ohne Peter zu belehren, und sehnte sich insgeheim danach, nach Peters Hand zu greifen, die so einladend neben ihm lag.

Mit nachdenklichem Blick richtete Peter seine Augen gen Himmel. Die Sterne strahlten so verführerisch hell. Ein Star - so nannten auch ihn viele in seiner Schule. Doch die Kehrseite des Erfolges war weniger strahlend, als die meisten ahnten: Immer war jemand bei ihm, ständig musste er trainieren und stand unter permanentem Leistungsdruck.

Doch das Schlimmste war die konstante Überwachung. Nie konnte er auch nur die kleinste private Unternehmung wagen, ohne dass es am nächsten Tag das Klatschthema der Schule war. Nie, außer heute Abend.

Wie sehr er sich wünschte, in diesem Moment einfach nach Bobs Hand zu greifen. Doch das konnte er sich nicht erlauben, ohne seine gesamte Karriere zu riskieren. Und so blieb sein Wunsch unerfüllt, unerreichbar wie die Sterne über ihnen.

„Ich würde gerne mal einen neuen Stern oder Planeten entdecken", flüsterte Bob unerwartet in die Stille. „Für den Anfang würde mir auch ein Komet oder so reichen", lachte er dann, so absurd fand er den Gedanken, dass ausgerechnet er mal etwas wirklich Bedeutendes vollbringen konnte.

Bob Andrews, die Leseratte mit der Brille. Der gerne nach Unterrichtsschluss noch in der Bibliothek oder in der Sternwarte war, um zu forschen. Der niemals die Aufmerksamkeit seines heimlichen Schwarms auf sich ziehen würde. Der Grund, warum sie heute hier oben zusammensaßen, war dem Umstand geschuldet, dass sie ein gemeinsames Projekt über den Nachthimmel von Rocky Beach bearbeiten sollten.

Wie sehr wünschte er sich, endlich gesehen zu werden!

Wie sehr wünschte sich Peter, endlich einmal unsichtbar zu sein!

In diesem Moment schoss eine Sternschnuppe über den fast schwarzen Nachthimmel, zog einen langen Schweif hinter sich her, wurde kurz heller und verglühte dann spektakulär am Horizont.

„Hast du das gesehen?", fragte Peter aufgeregt. „Das war ja der Wahnsinn!"

„Natürlich habe ich das gesehen", lachte Bob über Peters plötzliche Euphorie. „Hast du dir etwas gewünscht?", wollte er von dem Sportler wissen. Sicherlich war sein Wunsch, das nächste Spiel zu gewinnen, oder ein hübsches Mädchen zu küssen.

„Ich denke schon", antwortete Peter unsicher. „Und du?" Bestimmt hatte Bob sich gewünscht, mehr Zeit im Physiklabor verbringen zu können, in dem seit neuestem ein für Peter völlig unbekanntes technisches Gerät stand, von dem er Bob hatte schwärmen hören.

„Ja, ich... sieh mal!" Bob stand plötzlich auf und holte seine Kamera mit dem Teleobjektiv aus dem Rucksack. Dann legte er sie auf eine Steinfläche, welche die Himmelsrichtungen markierte und visierte das Objekt am Himmel an. Mit ruhiger Hand schoss er ein paar Bilder und notierte die Koordinaten, welche der eingebaute Kompass des teuren Gerätes anzeigte.

Peter hatte weniger für Bobs neue Entdeckung übrig. Er stand auf und reckte sich. „Ich bin müde und werde nach Hause fahren. Es war cool, dass du mir diesen Ort gezeigt hast. Aber ich habe morgen ein wichtiges Spiel."

Bob unterbrach seine Beobachtung und wandte sich Peter zu. „Danke, dass du mitgekommen bist. Ich bin sonst immer allein hier oben. War schön, diese Aussicht mit jemanden zu teilen."

Für einen kurzen Augenblick sahen sich die Jungen zufrieden an. Dann räusperte sich Peter und Bob senkte den Blick. „Bis morgen in der Schule, Andrews." Peter hob zum Abschied die Hand und begann dann den Abstieg an der Feuerleiter.

„Bis morgen, Peter...", hauchte Bob in die Nacht. Die Nacht, die das Leben der beiden Schüler für immer verändern würde.

Verwünscht (ONC 2024)Onde histórias criam vida. Descubra agora