Kapitel 13 - Letzte Funken

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Streuselbands Glieder bebten vor Aufregung, als die Insel des Sonnenkristalls endlich in Sicht kam. Neben ihr waren Flügel, Flammenstrahl, die Heilerin Blaurose und Flimmermähne auf die Mission mitgekommen. Sie hatten sich mit fünf Pferden der Bergherde getroffen, um gemeinsam über den Schlamm zu ziehen, der zurückgeblieben war, als sich der große Salzsee zurückgezogen hatte, um ihnen den Weg freizugeben.

Aufgrund des aufziehenden Sturm beeilten sich die Pferde, in den Schutz der Höhle des Kristalls zu gelangen. Mit wehender Mähne trabte Nachtstrahl voran und führte sie durch eine unscheinbare Öffnung in der Felswand, die sich vor ihnen erhob. Mittlerweile schüttete es in Strömen und Streuselband war froh, ins Trockene zu kommen. Keuchend schleppten sich die erschöpften Pferde einen unwegsamen Pfad nach oben. Immer wieder musste die junge Schimmelstute losgetretenem Geröll ausweichen. Dicht lief sie neben ihrem Tutor Flügel her, der sich mit verbissener Miene den steilen Hang hinauf kämpfte. Bis auf durch einige Löcher in der Felswand drang keinerlei Licht zu ihnen vor. Doch die Heiler kannten den Weg. Viele Male waren sie bereits beim Sonnenkristall gewesen, um mit den Ahnen zu kommunizieren und neue Macht für ihre Heilertätigkeiten zu schöpfen. Streuselband war mehr als nur überrascht gewesen, als man ausgerechnet sie - eine Schülerin - dazu erwählt hatte, mit auf die Reise zu kommen. Sie freute sich schon darauf, ihrer Freundin Birkenband alles von ihrem Abenteuer berichten zu können.

„Wie weit ist es noch?", fragte Luftzug, eine junge, hellgraue Kämpferin, die mit Nachtstrahl und Krautfell gekommen war.

Verbissen erwiderte Krautfell: „Nicht mehr weit, der Sonenkristall ist gleich da oben." Mit einer fahrigen Kopfbewegung deutete er vor sich.

Mit jeder Pferdelänge schien der Pfad enger und düsterer zu werden. Zunehmend machte sich ein unwohles Ziehen in Streuselbands Magengegend breit. Sie hatte sich die Sonneninsel immer hell und einladend vorgestellt, nicht so kalt und dunkel. Ebenso wahr ihr nicht entgangen, wie sich die beiden Anführer immer wieder sorgenvolle Blicke zuwarfen. Was hatte es damit auf sich, dass die Wolken ausgerechnet heute, am einzigen Tag des Jahres, an dem man gefahrlos zum Sonnenkristall reisen konnte, die Sonne verdunkelten?

„Hier ist es", hauchte Blaurose, die Heilerin der Ampferherde.

Voller Ehrfurcht spähte Streuselband an den anderen Pferden vorbei. Der Anblick des Kristalls raubte ihr fast den Atem. Mächtig und glitzernd erhob sich ein riesiger Stein über ihren Köpfen. Der finstere Pfad hatte ein Ende genommen und vor ihnen tat sich eine große, runde Höhle auf. Streuselbands Blick wanderte an dem durchsichtig-rosa Kristall hinauf, der sich kunstvoll zerbrochen in die Höhe wand. Oberhalb gab es ein Loch in der Höhlendecke, durch das spärliches Licht den Kristall tränkte. Regenwasser rann den Stein hinab und tropfte geräuschvoll auf den glatten Steinboden, worauf es glänzende Pfützen hinterließ.

„Das ist ..."

„Unglaublich!", beendete Luftzug Streuselbands Satz.

Die Heiler nickten. „Jetzt müssen wir nur darauf warten, dass die Sonnenstrahlen auf den Kristall treffen. Normalerweise entsteht dadurch ein magischer Glanz, der Kraft spendet und Visionen auf der Oberfläche des Sonnenkristalls freisetzt", erklärte Blaurose der Schülerin. Ihre Ohren waren nach hinten geklappt, als würde sie nicht glauben, dass sie heute noch die Sonne sehen würden.

„Lasst uns ausruhen und hoffen, dass der Sturm nachlässt." Erschöpft senkte Flammanstrahl den Kopf und ließ ein Hinterbein einknicken, um zu dösen. Auch Streuselband merkte plötzlich, wie müde sie nach der langen Reise war. Ihr Bauch fühle sich hohl an und ihr Fell war klamm und kalt. Dennoch war sie angesichts des mächtigen Steins vor sich viel zu aufgeregt, um auch nur ein Auge zuzutun. Vorsichtig näherte sie sich der glänzenden Fläche. Unnatürlich laut hallten ihre Hufschläge von den Wänden wieder. Fast klang es so, als würde eine ganze Herde durch die Höhle marschieren. Voller Ehrfurcht blieb Streuselband stehen. Ihr Gesicht spiegelte sich dutzendmal in den Brechungen und Kanten des Kristalls wieder. Langsam streckte sie sich aus und berührte den Stein mit den Nüstern. Es war, als würde Kälte und Hitze sie gleichzeitig wie eisige Klauen mitten in die Brust treffen. Erschrocken taumelte sie zurück und suchte nach Blaurotes Blick.

Belustigt schnaubend schüttelte die grau gemusterte Stute ihre Mähne. „Das ist die Macht des Kristalls, die du da spürst."

„Die ... Macht des Kristalls?", wiederholte Streuselband ungläubig.

Blaurose nickte. „Es steckt eine schwer begreifliche Kraft in diesem Stein. Nur mit seiner Hilfe gelingt es uns Heilern, all das Wissen über Krankheiten und Kräuter zu behalten. Sicherlich hätten ohne ihn viele Pferde ihr Leben gelassen."

„Man könnte also sagen ... der Sonnenkristall spendet den Herden Leben ...", murmelte Streuselband ergriffen. „Wer hat ihn gefunden?"

„Vor vielen Jahren", begann Krautfell. „siedelten sich die ersten Pferde in diesem Gebiet an. Legenden besagen, dass eine schreckliche Seuche sie heimsuchte. Also zog der Anführer los, um Hilfe zu suchen. Die Sonne leitete seinen Weg auf diese Insel und in der Spiegelung des Steins wurde ihm eine Heilpflanze gezeigt. Nur so konnte seine Herde überleben."

Voller erstaunen lauschten die Pferde der Geschichte.

„Seitdem reisen die Heiler jedes Jahr hierhin, um neue Kraft und Visionen aus dem Kristall zu schöpfen. Nur die Sonne ist dazu in der Lage, Bilder in diesem Stein zu erwecken, daher wurde er Sonnenkristall genannt." Krautfell hatte geendet und der braune Hengst trat zurück. Mit verbissener Miene starrte er nach oben in den grauen Himmel. Wie Dornenspitzen fielen noch immer eisige Regentropfen daraus auf den Stein herab. Nachtstrahl wechselte einen Blick mit seinem Kämpfer Nordwind. „Uns bleibt nichtmehr viel Zeit", wieherte der Rappe seiner Herde zu. „Bald wird das Wasser zurückkehren und den Rückweg versperren. Wenn die Sonne bis zum Abendrot nicht aufgetaucht ist, müssen wir unverrichteter Dinge wieder abreisen, sonst sind wir hier eingeschlossen und werden jämmerlich verhungern.

Streuselband schluckte. Der Anführer der Bergherde hatte Recht. Morgen schon würde die gesamte Sonneninsel wieder von Wasser umrundet und damit für die Pferde unerreichbar sein. Sie konnten nur hoffen, dass sich die Wolken schnell genug verzogen, um zumindest einen winzigen Sonnenstrahl auf den Kristall treffen zu lassen. Doch die Chance schien gering. War die Macht durch die neue Herde in Ungleichgewicht geraten und der Sonnenkristall verwehrte der Berg- und der Ampferherde seine Hilfe? Mussten sie selbst auf die richtige Lösung kommen, wie sie mit den fremden Pferden und der Futterknappheit umgehen sollten?

Plötzlich wurde die Gruppe von lautem Keuchen und Hufgeklapper aufgeschreckt. Wasserfall, ein Wächter der Bergherde, riss die Augen auf und witterte. „Fremde Pferde!", rief er erschrocken aus. Instinktiv bauten die Heiler sich schützend vor dem Kristall auf. Streuselband fuhr zum Eingang herum. Quälend langsam wurde das Schaben lauter, bis auf einmal zwei völlig durchnässte Leiber vor ihren Hufen auf den Höhlenboden stützten. Erschrocken wichen die Pferde zurück, ehe sie die vor ihnen liegenden Bündel näher begutachteten. Beißender Salzgeruch stieg Streuselband in die Nüstern. Das mussten die Pferde sein, die im Gebiet der Bergherde gesichtet worden waren. Sauerband hatte ihr erzählt, dass Nachtstrahl ihren Geruch auf dem großen Herdentreffen als fischig beschrieben hatte.

Vorsichtig näherte sich Blaurose dem etwas größeren Körper und schnupperte daran. Vollkommen ausgelaugt hob und senkte sich der schlanke Brustkorb einer palominofarbenen Stute mit hochweißen Beinen. Flimmermähne sog scharf die Luft ein, als er neben ihr ein völlig ausgemergeltes, dunkelbraunes Fohlen entdeckte. Schützend wölbte sich die Stute um das zitternde Wesen herum. Schwach hob sie ihren Kopf an und blickte die Pferde aus traurigen Bernsteinaugen an. „Er ... braucht Hilfe", murmelte sie kraftlos, ehe ihr Schädel schwer auf den kalten Boden sank. „Ohne Nahrung und Wärme wird er sterben." Dann wurde auch sie bewusstlos.

Mit bebenden Nüstern blickte Streuselband auf das fremde Fohlen herab. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass es hier in der Kälte kaum eine Überlebenschance hatte. In diesem Moment durchbrach ein einsamer Sonnenstrahl die düsteren Wolkendecke.

RivalenWhere stories live. Discover now