𝟐𝟗

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Odesa
Düsseldorf
Januar 2023

Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und lehne mich müde zurück. Die Arbeit in der Bäckerei macht mir zu schaffen und das obwohl ich nicht mal zum Brainstorming der Rezepte gekommen bin. Die Putzfirma war der komplette Reinfall. Ich habe ein Haufen Geld weggeschmissen, nur damit ich ihnen hinterher putzen kann. Der Boden wurde nicht richtig gewischt, die Küche muss nochmal grundgereinigt werden und die Schränke, sowie der Tresen müssen noch poliert werden. Ich habe gerade eine halbe Stunde damit verbracht die Toiletten zu reinigen und ich bin jetzt schon aus der Puste. Ich schließe meine Augen. Heute bin ich das erste Mal wieder alleine in der Bäckerei. Am Anfang war es merkwürdig, doch nun komme ich gut zu recht. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass der Vorfall bald schon sechs Monate alt ist. Habe ich, konnte ich wirklich diesen schlimmen Tag so schnell hinter mir lassen? Sechs Monate. Bald ist es ein ganzes halbes Jahr, dass Agon wieder in mein Leben getreten ist. Ein ganzes halbes Jahr in dem ich mich von so viel Leid und Angst umgeben habe. Ob dies nun sein Ende findet?

Mit flatternden Augenliedern blicke ich durch die dünnen Fenster. Der Schnee hat schon seit einigen Wochen nachgelassen. Vor mir erblicke ich nur in blätterlose Stämme, nassem Betonboden und grauem Himmel. Die Straßen Düsseldorfs sind voller lautem Verkehr, etlichen Menschen und fliegenden Regenschirmen. Kann ich wirklich mein ganzes Leben hier verbringen? Ich nehme ein Happen von meinem Brot und begebe mich seufzend wieder an die Arbeit. Obwohl ich mich so überanstrengt habe, fühle ich mich gleichzeitig auch so frei. Meine Gedanken sind seit langem von bösen Geistern geplagt und doch in einem Ort voller Ruhe, klingen sogar ihre Schreie ab. Fürs erste auf jeden Fall, denn dieses flaumige Gefühl im Bauch, welches ich schon seit Tagen habe, verlässt mich nicht. Meine Therapeutin ist im Glauben, dass ich sehr paranoide Tendenzen habe. Früher dachte ich immer, dass die bösen Schmetterlinge in meinem Bauch als eine Warnung gelten. Heute habe ich gelernt, dass Menschen, die Böses erfahren haben, sich diese Schmetterlinge selber einpflanzen.

Nachdem ich den Boden gewischt und den Staub gesaugt habe, nehme ich mir vor die Regale zu polieren. Um die Küche kümmere ich mich an einem anderen Tag. Ich greife nach der kleinen Leiter, schnappe mir mein Polierzeug, welches sich aus Spülmitteln und einem Waschlappen zusammentut und gehe auf das erste Regal hinter dem Tresen zu. Ich verziehe leicht das Gesicht, da ich nicht wissen möchte, wie viel Dreck und Staub sich noch an diesen Regalen befindet. Es wackelt unter meinen Füßen, während ich den Waschlappen über das Regal wische. Mein Gesicht glänzt und spiegelt sich an der Keramikwand wieder. Irgendwie sehe ich anders aus, nur kann ich nicht beschreiben wie. Meine Mutter hatte mich immer darauf aufmerksam gemacht, wann ich zugenommen oder abgenommen habe, wann ich hübsch und wann ich ihrer Meinung nach hässlich aussah. Ich erinnere mich noch genau an ihre Worte, als ich ihr von meinem Plan erzählte Bäckerin zu werden. "Hör auf deine Mutter. Frauen wie wir sind nicht für Erfolg gemacht. Wir sind nicht begabt, wir sind gerade mal ausreichend." Ich wünschte ich könnte meiner Mutter zeigen, dass sie falsch lag. Das mit jeder Niederlage man weiteres Stückchen am Berg hochklettert.

Ich schaffe es mit meiner Arbeit voranzukommen. Der Tresen ist poliert, die meisten Regale auch. Es fehlen nur noch die oberen Regale hinter dem Tresen, an welchen ich gerade bin. Ich verziehe den Mund beim Anblick des ganzen Staubes. Der Eimer neben mir ist nun voll mit einer Mischung von Schmutzwasser und Spülmittel. Ich hätte von Anfang an alles alleine putzen sollen. Nun bin ich hier mit erschwerter Arbeit und weniger Geld. Mit lautem Seufzen wische ich in sanften, kreisenden Bewegungen das Regal von oben nach unten ab. Die Leiter knarzt wieder unter meinen Füßen, während ich versuche an alle oberen Ecken und Kanten zukommen und sie gründlich zu reinigen. Nur um sicherzustellen, dass kein Staub zurückbleibt. Und dass ich nicht nochmal eine Firma rufen muss, welche ihre Arbeit nicht anständig ausübt. Mein Waschlappen fällt mir aus der leicht zitternden Hand und ich stöhne laut auf. »Verdammt nochmal!« Gerade möchte ich mein Fuß eine Stufe runter stellen, doch ...

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