𝟎𝟔

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Odesa
Düsseldorf
September 2022

»Du verstehst es nicht, Adem.« Resigniert schüttle ich meinen Kopf. Er legt sich seufzend eine Hand auf die Schläfe. »Inwiefern verstehe ich es nicht?« Ich kämpfe mit den Tränen. Ich konnte die ganze Nacht kein Auge zu machen. Bei jedem kleinsten Ton der durch die Wände ertönte, zuckte ich stark zusammen. Tiefe Augenringe stehen mir ins Gesicht geschrieben. »Ich sage es dir, jemand war in meinem Zimmer!« Adem seufzt. Warum seufzt er? Denkt er ich bilde mir das alles ein? Verzweifelt fahre ich mir über die Haare. Sie sind ganz zerzaust vom ständigen anfassen.

»Du musst mir helfen!«, wimmere ich. Adem steht auf und gießt etwas Wasser in ein Glas. In seinem Gesicht steht nichts geschrieben. Ich kann weder erkennen, ob er mir glaubt oder ob er mir nicht glaubt. »Setz dich und fang nochmal von vorne an.« Ich fahre mit meinen Händen über meine Augen und fange dabei kleine Tränen auf. Er kommt auf mich zu und stellt das Glaswasser vor mir auf dem Tisch hin. Wir sind in seinem Büro. Seit sieben Uhr morgens warte ich hier auf ihn. Da ich mich verweigert habe mit jemand anderen zu sprechen. Entweder Agon oder Adem. Ein wildfremden Polizisten vertraue ich nicht. Vielleicht sollte ich die, die ich kenne auch nicht vertrauen. »Bitte.«, setzt Adem an und deutet auf den Stuhl auf welchem ich Platz nehmen soll. Schniefend setze ich mich hin und nehme ein großen Schluck von meinem Glaswasser.

»Nimm dir Zeit.« Adem blinzelt mich vorsichtig an. Ich glaube ich bin in seinen Augen wie eine Porzellanpuppe. Zerbrechlich. Etwas womit man mit Vorsicht umgehen muss, da die Konsequenzen einem zu teuer sind. Es ist unfassbar irritierend, wie ein Mensch dich behandelt nachdem er herausfindet, dass du in etwas tragischem involviert warst. Es gibt drei Arten von Menschen. Die Überfürsorglichen, die Ignoranten und die, die dich verstehen. Meine Mutter war die Überfürsorgliche. Sie brachte mir jeden Abend Tee ins Bett und fragte mich ob es mir gut geht. Sie hat mich geduscht und eingedeckt. Wenn ich Raum war durfte keiner die Nachrichten anmachen. Es wurden keine Kerzen mehr angemacht und mein Vater durfte seine Zigaretten nicht mehr im Haus anzünden. Es war fast schon lächerlich. Meine Mutter meinte es zwar gut, doch ich fühlte mich wie ein Problem. Wie etwas, was nicht stimmt. Mein Vater hat versucht mir etwas von Moral und Schicksal beizubringen, aber dies war vergeblich. Jedes einzelne Wort was seine Lippen verließ, machte mich unfassbar wütend. Dann hat er versucht mir alte Geschichten zu erzählen. Märchen und Erzählungen, die seine Mutter ihm während seiner Kindheit erzählt hat. Wirklich rührend ... wäre seine Mutter nur nicht eine wandelnde Hexe ohne den passenden Besen. Ich schüttle unmerklich den Kopf.

Kommen wir zu den Ignoranten. Während ich bei meinen Eltern Zuhause war, bekam ich recht häufig Besuch. Sei es von irgendwelchen Tanten oder Onkeln. Man wollte wissen, wie es mir geht. Das ich nicht lache! Ein fataler Grund um ein Kaffee zu trinken und über seine Familie und Heimat lästern zu können. Jedes Mal, wenn sie eine Frage an meinem "Vorfall" hatten, waren sie nicht an mich gerichtet, sondern an meine Eltern. Es war äußerst frech, mir dann noch ins Gesicht zu blicken und "Gjynah" zu flüstern. Mich anzustarren als wäre ich ein wissenschaftliches Experiment, mir ins Gesicht Glück wünschen und anschließend im Hintergrund flüstern, wie ich nie wieder normal sein werde? Wenn das etwas wie Nachsorge ist, dann bin ich sorglos. Es ist eine wirkliche Schande. Schande, dass ich dritte und letzte Option noch nicht kennenlernen durfte. Jemand der mich versteht ... in den Arm nimmt und tröstet. Jemand der still meine Hand hält, wenn ich nicht sprechen kann. Der mir nicht vorgaukelt, dass es besser oder leichter wird, sondern die Ernsthaftigkeit der Thematik konfrontiert. Noch hatte ich das Glück nicht, aber mal sehen was noch für mich offen steht.

»Odesa?« Ich räuspere mich und sehe in Adem's Augen. Adem hat eine beruhigende Art an sich. Bei ihm kann man abschalten. Ganz anders als Agon. Bei ihm ist alles so feurig und rasant. Ich reibe nervös meine Hände zusammen. »Ich hatte einen Albtraum.« Aufmerksam blinzelt er mich an. Seine ganze Konzentration liegt auf mir. Mein Auge zuckt leicht. »Und als ich aufgewacht bin, da— da war mein Fenster offen.« Er nickt seelenruhig. Genervt ziehe ich meine Augenbrauen zusammen. »Musst du nicht etwas notieren oder so?«, frage ich blaffend. Ein kleines Lächeln legt sich auf seine Lippen. »Ich habe ein fotografisches Gedächtnis. Nur dein Fenster war offen, mehr nicht?« Ich nicke schluckend. Etwas unsicher kratze ich mich am Nacken. Ich höre mich wie eine Idiotin an. »In welcher Etage wohnst du?« Ich schließe resigniert meine Augen. »In der Zweiten.« Ich bin eine Idiotin. Seufzend stelle ich laut mein Glaswasser auf den Tisch. »Adem, du musst mir glauben! Ich würde sowas doch nicht erfinden!« Mit großen Augen blinzle ich ihn an. Achtsam fährt Adem sich über sein Dreitagebart.

TränenblindWhere stories live. Discover now