Kapitel 10

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Liarya

Tick. Tack. Tick. Tack. „Einundzwanzig, Zweiundzwanzig, Dreiunzwanzig, Vieundzwanzig", seit einer Stunde lag ich nun schon auf meinem Bett und starrte die kleine Uhr an, die knapp über der Tür hing. Tirian war nun schon seit zwei Stunden weg und mir war schrecklich langweilig. In meinem Reisebeutel befanden sich nur Kleidung, Briefpapier und eine Füllfeder. Tirian hatte bloß den Lederbeutel mit Goldmünzen als Gepäck. „Einundfünfzig, Zweiundfünfzig, argh, vergiss es doch einfach!", murmelte ich zu mir selber und wandte meinen Blick von der Uhr ab. Gelangweilt ließ ich meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Der Schreibtisch war leer, die Tür geschlossen und auf dem Kleiderständer hingen zwei Mäntel. Der Spiegel war auch uninteressant und Tirians Bett würde ich bestimmt nicht zu nahe kommen. Dann fiel mein Blick auf die Waschschüssel, die sogar noch mit Wasser gefüllt war. Schnell stand ich also auf, klappte den Paravent auf und platzierte ihn so, dass er von der Wand neben dem Spiegel bis zur Wand neben Tirians Schreibtisch reichte. Dann entledigte ich mich meiner Kleider und legte sie so gut es ging auf den Boden neben der Waschschüssel. Mit meiner Fußspitze prüfte ich die Temperatur des Wassers und zu meiner Überraschung war es ziemlich warm. Schnell stieg ich auch noch mit dem zweiten Fuß hinein und setzte mich dann langsam hin. Das Wasser ging mir bis knapp über die Brust. Meine Haare waren noch immer ganz klebrig von dem Pech und ich startete einen Versuch, mir das Schwarzkiefernharz heraus zu waschen.

Da saß ich also, seit einer gefühlten Ewigkeit in einem mittlerweile kalten Wasser und versuchte mit normaler Seife meine Haare Pech frei zu bekommen. Bisher hatte ich noch keinen Erfolg erzielt und schön langsam verlor ich die Geduld. „Verflixt, wieso geht das denn nicht?!" Im nächsten Moment hörte ich, wie sich die Tür öffnete und sofort versank ich bis zum Hals in dem Wasser. Überraschenderweise passte mein ganzer Körper in diese unglaublich riesige Waschschüssel. Meine Augen fixierten den Paravent, als ob jeden Moment mein Zimmergenosse auf magische Weise durch den Sichtschutz kommen würde. „Prinzessin, ich habe Haarfarbe gefunden. Und eine Haarbürste." Seine Worte ließen mich erleichtert aufatmen, doch sofort wurde diese innere Freude wieder zunichte gemacht. „Schön und gut, aber das nützt sowieso nichts, weil das Pech nicht mehr aus meinen Haaren rausgeht." beschwerte ich mich und hörte Tirian leicht lachen. „Natürlich lässt sich das nicht so einfach rauswaschen. Deshalb hab ich noch etwas mitgebracht. Also wie wäre es, wenn du dich fertigmachst und dann sehen wir zu, dass wir deine Haare wieder hinbekommen?", fragte er und ich stieg aus der Waschschüssel und trocknete mich mit einem der beiden Handtücher ab. Meine Haare blieben nass und als ich fertig angezogen war, klappte ich den Paravent wieder zusammen und lehnte ihn zurück an die Wand. Bei dem Anblick der sich mir bot musste ich leicht kichern.

Tirian stand mit dem Rücken zu mir und blickte fasziniert auf den leeren Schreibtisch neben meinem Nachtkästchen. Leise schlich ich mich also an und als ich ganz dicht hinter ihm stand, holte ich tief Luft und sagte so laut wie möglich: „Was gibt es da denn interessantes auf diesem leeren Schreibtisch?" Diese Aktion hatte allerdings nicht den erwarteten Effekt, denn Tirian wirbelte herum und hielt mir einen Dolch an die Kehle. „Woah, beruhig dich!" Als er realisierte, dass ich es war, die ihn erschreckt hatte, ließ er den Dolch schnell wieder verschwinden und räusperte sich, bevor er seine linke Hand hob. „Uhh, was ist denn da drinnen?", fragte ich neugierig und wollte ihm die braune Ledertasche abnehmen, doch er war schneller und hielt sie hoch, sodass ich sie nicht mehr erreichen konnte. „Haarfarbe, eine Haarbürste und Ogarspeichel." Er sagte das Letzte so gelassen, als wäre es das normalste auf der Welt. „Bitte was? Wozu brauchen wir denn Ogarspucke?" Tirian rollte mit den Augen. „Um das Pech aus deinen Haaren zu entfernen. Ogars benutzen die Rinde der Schwarzkiefern um sich die Zähne zu putzen. Und damit die Rinde Harzfrei ist, enthält Ogarspeichel einen speziellen Stoff, der das Harz zu einer Art Schleim werden lässt. Den kann man dann leicht entfernen", erklärte er und ich starrte ihn geschockt an.

„Willst du damit sagen, dass ich mir Ogarspucke in die Haare schmieren soll?! Erst Pech, dann Ogarspucke, was kommt denn noch?", fragte ich fassungslos und er zuckte nur mit den Schultern. „Du kannst dir die Haare auch abscheiden." Das wollte ich noch weniger. Immerhin hatte es Jahre gedauert, bis meine Haare Knielang geworden waren. „Ganz bestimmt nicht", schnaubte ich und er zuckte mit den Schultern. „Dann heul nicht und benutze den Ogarspeichel." Damit hielt er mir eine kleinen Tontopf hin. Ich nahm den Deckel ab uns sofort sah ich die grünfarbene Spucke. Augen zu und durch, nehme ich an. Immerhin konnte ich mir ja danach die Hände und Haare waschen, und gründlich einseifen und zwar so lange, bis der gesamte Speichel aus meinen wertvollen Haaren verschwunden war. Langsam tunkte ich also den Zeigefinger in die grünliche, matschige Flüssigkeit. „Igitt", murmelte ich angewidert und verzog das Gesicht. Als meine ganze Hand voller Speichel war, stellte ich den Topf auf den Schreibtisch und verteilte die Flüssigkeit in meinen Haaren.

„Du hattest Recht!", rief ich begeistert, während ich kleine schwarze Schleimklümpchen aus meinen Haaren entfernte. Nachdem ich den ganzen Speichel in meinen Haaren verteilt hatte, verklumpte das Pech keine Stunde später zu vielen winzigen Schleimklümpchen, die sich ziemlich leicht aus den Haaren entfernen ließen. „Natürlich hatte ich Recht. Ich kenne mich nämlich in dieser Welt etwas besser aus als du. Denn im Gegensatz zu dir wäre ich niemals derartig unvorsichtig in eine Wald voller Wölfe gegangen", antwortete Tirian und ich verdrehte die Augen. „Die Wunde hat mich gelehrt, das nicht nochmal zu tun. Außerdem hast du mich ja gerettet." „Ich hätte mich auch niemals auf einen Deal mit einem Händlerkobold eingelassen, schon gar nicht, wenn mir davor gesagt wurde, dass ich das auf gar keinen Fall tun sollte." Das Grinsen konnte ich praktisch hören. Obwohl seit dem Vorfall gerade einmal um die vierundzwanzig Stunden vergangen waren, liebte Tirian es, mir immer und immer wieder vorzuhalten, wie dumm und unvorsichtig das nicht von mir gewesen war. „Er sagte er hätte eine Familie...", verteidigte ich mich grummelnd und Tirian lachte. „Kobolde gründen keine Familien. Sie paaren sich einmal im Jahr und die Mütter setzen die Kinder direkt nach der Geburt irgendwo aus." Diese Aussage überraschte mich. Wieso sollte man so etwas tun? Mehr als ein leises „Oh" sagte ich aber nicht dazu. Gerade fischte ich das letzte Schleimklümpchen aus meinen Haaren und ich führte einen kleinen Freudentanz auf. „Juhu! Endlich sind meine Haare wieder Pechfrei!", trällerte ich und sprang durch den Raum. Tirian schüttelte leicht den Kopf, lächelte aber. Nach meinem Freudentanz lief ich sofort zurück zu der Waschschüssel um meine Haare noch einmal gründlich zu waschen, nur um sicherzugehen, dass jeder noch so kleine Tropfen Ogarspucke aus meinen Haaren entfernt wurde. Fünfmal einseifen und auswaschen genügte doch, oder? Als ich meine Haare auch noch leicht mit dem Handtuch getrocknet hatte, drehte ich mich zu Tirian um. „Jetzt färben wir meine Haare richtig!", grinste ich und er blickte mich verwirrt an. „Wir?" „Natürlich. Denkst du ich krieg das alleine hin? Ich habe noch nie in meinem Leben Haarfarbe benutzt, also weiß ich nicht, wie das geht. Und da du dich ja so gut mit allem auskennst, kannst du mir doch sicher helfen, oder?"

Blinzelnd starrte ich mein Spiegelbild an. Meine Haare waren nun in einem dunklen blau gefärbt, was meine ohnehin schon blasse Haut sehr ungesund aussehen ließ. Es sah einfach nicht richtig aus. Hellblaue Augen, blassrosane Lippen und bleiche Haut, dazu dunkelblaue Haare. Ich sah einer Leiche ähnlich. „Was stimmt denn jetzt schon wieder nicht?", fragte Tirian genervt und ich drehte mich um. „Wer sagt denn, dass etwas nicht stimmt? Ich war nur überrascht, dass es so dunkel ist. Es lässt mich aussehen wie eine Leiche", murmelte ich. „Na wenns weiter nichts ist", brummte er, doch ganz leise hörte ich ihn „Verwöhnte kleine Prinzessin" murmeln, entschied aber, diese Aussage einfach zu ignorieren. „Anderes Thema, die Edelsteine, bist du fündig geworden?" Der Schwarzhaarige nickte und zeigte mir den restlichen Inhalt der Ledertasche. „Vier Rubine und drei große Diamanten?! Das wäre genug um ein Jahr hier unterzukommen und für Vorräte und eine neue Ausrüstung würde es auch reichen", erklärte er und ich riss erstaunt die Augen auf. Er ging an mir vorbei zu seinem Bett und stellte die Ledertasche dort ab. „Ich gehe trainieren." Kurz bevor er aus dem Zimmer verschwinden konnte hielt ich ihn auf. „Was trainierst du denn?", wollte ich interessiert wissen, auf eine ganz bestimmte Antwort hoffend. „Magie- und Schwertkunst. Ich bin in spätestens zwei Stunden zurück", antwortete er und ich hielt ihn nochmal auf. „Was das angeht... Würdest du mir vielleicht noch einen klitzekleinen Gefallen tun?"

(K)ein Klischeehaftes MärchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt