Der Klang ihrer Stimme weckte vergangene Erinnerungen an unvergessliche Nächte. Fröhliche Straßenfeste, Beachpartys mit nächtlichem Treiben in den Wellen und Picknicks am Strand. Sonnenaufgänge, bunte Cocktails, tanzen, Freiheit. Nairobi mittendrin, die auf Leibeskräften sang. Sie kümmerte sich nicht um ein paar falsche Töne, konzentrierte sich auf die Gefühle, die sie beim Singen empfand. An unserem letzten Abend in Argentinien stürmte sie auf die Bühne und performte vor fremden Menschen ein Lied nur für mich.
Manchmal nervte es mich, wenn sie unter der Dusche lautstark eine Melodie anstimmte, jeden Tag dieselbe Passage eines Ohrwurms summte oder mitten in der Öffentlichkeit aus dem Nichts den Refrain ihres Lieblingssongs zum Besten gab.

Heute sang Nairobi nicht aus Freude, nicht aus Spaß, nicht aus Leidenschaft. Sie sang um ihr Leben und ihre Stimme klang nur halb so schön wie sonst.

Es machte mich wütend, dass Gandia ihr die Freude daran raubte.

Unweigerlich zitterte meine Stimme. Die anderen sah ich nicht, filterte aber deren Anspannung heraus.

,,Die beiden Idioten aus dem Lüftungsschach werden sich jetzt zurückziehen und vor die Tür kommen", befahl Gandia nach Beendigung des Liedes. ,,Ihr habt eine Minute Zeit."

Eine Minute.
Noch nie kam mir eine Minute so verdammt lange vor. Eine Ewigkeit.

Nairobi hielt möglichst würdevoll die Fassung und ich kam mir hilflos vor. Wohin führte das? Was bezweckte Gandia mit seinen kranken Spielchen?

,,Ihr lasst jetzt alle die Waffen fallen und stellt euch an die Wand. Ich würde euch ja darum bitten, euch auf den Boden zu legen, aber ich kenne mich zu gut. Ihr würdet alle sterben. Lasst uns nicht den Respekt verlieren."

Welchen Respekt? An Gandias Selbstwahrnehmung scheiterte es gewaltig.

,,Ich werde jetzt rauskommen. Ihr geht alle schön vor mir her. Keiner fasst die rothaarige an. Alle bleiben in meinem Blickfeld."

Am den Haaren zog er Nairobis Kopf aus der Tür. Kraftlos knallte sie gegen Gandia und streckte die blutige Hand nach mir aus. Irgendwas sagte mir, dass sie gerade keinen Schmerz wahrnahm und sich ihre demolierte Hand betäubt anfühlte. Gandia hielt sie fest und presste ihr die Pistole an den Kopf. So ausgelaugt war Nairobi nicht einmal gewesen, als sie sterbend auf dem Boden lag.

,,Hey!", protestierte ich, plötzlich mit neuer Kraft gesegnet und riss an den Fesseln. Panik. ,,Wo gehst du mit ihr hin?"

Gandia ignorierte mich. Er verließ den Raum, meine Freundin im Schlepptau.

Außer mir vor Wut hoffte ich, ungeahnte Kräfte zu entwickeln und die Fesseln mit bloßen Händen zu zerreißen. Spoiler: ich entwickelte keine. Das einzige, was ich entwickelte, war eine Überdosis Angst. Einst erzählte der Professor von der Wirkung des Gehörs. Diese Masche verwendeten wir im Falle Sofías, Mamá beim Vortäuschen von Raquels Tod. Vielleicht fürchtete ich mich gerade deshalb davor, was ich gleich zu hören bekam.

Ein Poltern. Erschrocken zuckte ich zusammen. Es war... direkt über mir. Plötzlich öffnete sich die Klappe des Lüftungsschachs und eine Person kletterte hindurch - die verdreckte, aber sehr entschlossene Manila.
Manila gehörte zu uns, mischte sich unter die Geiseln, um mögliche Fluchtpläne frühzeitig zu entlarven. Sie war eine alte Kindheitsfreundin von Denver und ich hatte mich wahrscheinlich noch nie so sehr über ihre Anwesenheit gefreut wie jetzt. Gandia wusste nichts von ihr. Genial!

,,Ich könnte dich gerade küssen, weißt du das?", flüsterte ich ungeduldig, solange Manila an den Seilen zu schaffen war. Geschickt löste sie alle in Sekundenschnelle mit einem Taschenmesser.

,,Heb dir das für später auf. Dieser Verrückte da hinten dreht gleich durch", meinte sie ernst und reichte mir ihre M16.

Im Laufschritt erreichten wir die Eingangshalle, schlichen uns so nah wie möglich an Gandia heran. Unsere Gruppe stand in einigen Metern Abstand und schenkten einander verunsicherte Blicke. Gandia zwang Nairobi zu einem grotesk aussehenden Tanz, bei dessen Anblick Manila eine Geste machte, als wäre ihr schlecht.

Gandia gab sie frei. Angestrengt setzte Nairobi einen Fuß vor den anderen. Etwas passte nicht zu dieser Szenerie. Es verlief zu glatt, zu reibungslos.

Manila zielte auf Gandia, bereit abzudrücken, aber ich schüttelte stumm den Kopf. Erstens trug der Typ sicher mehrere Schutzwesten übereinander, zweitens würde er Nairobi und die anderen sofort erschießen, wenn Manila nicht sauber genug zielte.

,,Hey, Mischlingsbraut", grinste Gandia. Langsam drehte Nairobi sich um. Und dann sprintete ich los, ohne meine gewagte Tat zu überdenken. Ich vollfühte den schnellsten 100-Meter-Sprint meines Lebens. Adrenalin pumpte durch meine Adern, hielt mich fokussiert. ,,Ich hab doch gesagt, dass ich dich kaltmache."

Mit der Wucht meines gesamten Körpers stürzte ich mich auf Nairobi, drückte sie unsanft auf den harten Boden. Eine Millisekunde später zischte der tödliche Schuss über unseren Köpfen hinweg.

Gandia feuerte eine Kugel nach der anderen. Wie Kanonenkugeln schlugen sie links und rechts von uns ein, eine davon verfehlte meinen Kopf nur knapp. Ich schrie und schützte Nairobi zu gut es ging mit meinem eigenen Körper. Meine Komplizen trugen kaum noch Waffen, dafür lieferte Manila die perfekte Ablenkung. Denver versuchte, eine Granate zu entzünden.

,,Lauft!", schrie Rio über den Lärm hinweg.

Ich handelte schnell und zwang die kraftlose Nairobi zurück auf die Beine. Sie stützte sich an mir ab und ließ sich mitziehen. Der Schock stand ihr immer noch uns Gesicht geschrieben.

Neben uns schlug eine Granate ein.
Meine Hand schlug auf den Türöffnemechanismus, als wäre er der Buzzer zur eine Million Euro Frage.

Ich griff Nairobi unter den Arm. Im Augenwinkel entdeckte ich Gandia, der auf uns zielte. Wir setzten uns in Bewegung. Plötzlich ergriff eine unsichtbare Wucht Nairobi und brachte sie ins Straucheln. Ächzend humpelte sie neben mir nach draußen

Gleißend helles Licht blendete mich. Ich kniff die Augen zusammen, sah Demonstranten auf der Straße, Scharfschützen auf den Dächern. Verwirrung in den Gesichtern.

,,Sydney.. " Die leise Stimme Nairobis erklang. Hinten an ihrem Oberschenkel färbte sich der Stoff des Overalls noch röter. Noch mehr Blutverlust. Ich konnte und wollte nicht klar denken, was das bedeutete .

Die Spezialeinheit der Bank rückte weiter vor, brüllte uns Befehle entgegen. Ich wollte der Polizei nichts schuldig sein. Aber zum Wohle Nairobis brüllte ich aus Leibeskräften: ,,HILFE! ICH ERGEBE MICH, ABER HELFT IHR!"

Heute traf ich die einfachste Entscheidung meines Lebens. Ich war nicht bereit das Leben meiner Freundin aufs Spiel zu setzen - nicht für jedes Gold der Welt.

Nairobis Körper erschlaffte in meinen Armen. Ihre Knie trugen ihr Gewicht nicht mehr. Den Kampf nahm sie nicht mehr auf. Friedlich lag sie in meinen Armen, das Gesicht zu einem sanften Lächeln seliger Erlösung verzogen.

Criminal Passion [2] ˡᵃ ᶜᵃˢᵃ ᵈᵉ ᵖᵃᵖᵉˡWhere stories live. Discover now