»Hast du irgendjemanden von Abdul erzählt?« Ich kneife fest meine Augen zusammen. Ich habe nicht einmal ihr alles erzählt. Ich schäme mich. Ich kann nicht. Außerdem ... »Es war nicht Abdul.«, setze ich fest an. Er war es nicht. Es war nicht er, der mich angegriffen hat. Aber trotzdem kommt mein Angreifer mir mittlerweile so bekannt vor. »Ich möchte nicht darüber reden.« Jede Nacht träume ich von ihm, warum soll ich ihn dann auch noch Tags begrüßen? Es ist beängstigend, wie echt sich diese Träume anfühlen. Manchmal spüre ich seine Hand auf meinem Mund oder das Blut auf meiner Stirn. Dabei ist das Einzige was noch da ist, eine Narbe. Aber wie soll ich ihr das erklären? Jedes Mal, wenn meine Lippen diesen Schmerz aussprechen wollen, fängt mein Blut an zu kochen. Mein Herz bebt in meiner Brust und die Übelkeit benebelt meine Gedanken. Ich habe das Gefühl, dass ich sterbe. Dabei ist es eigentlich der Start einer Wiedergeburt. Eine Träne kullert meine Wange runter. Ich möchte nicht daran nachdenken. Ich möchte nicht sein Atem wieder auf meiner Haut spüren müssen. Ich kann es nicht. Ich will nicht. Ich zittere stärker. »Odesa? Möchtest du ein Glaswasser?« Ich nicke schniefend und blicke beschämt zu Boden. Sie reicht mir ein Glaswasser und streichelt aufmunternd meine Schulter.

»Haben sich deine Schlafstörungen verbessert?« Es ist als könnte sie meine Gedanken lesen. Ich schüttle den Kopf. »Helfen die Schlaftabletten nicht?«, hakt sie verwirrt nach. »Ich habe sie nicht genommen.«, beichte ich. Sie nickt und ich nehme ein großen Schluck von meinem Wasser. »Warum nicht?« Diese Frage möchte ich nicht beantworten. Ich kann sie nicht beantworten. Ich zucke mit den Achseln und blicke zu Boden. Manchmal ... wenn ich in der Nacht verschwitzt aufwache, passiert es zeitgleich mit Dea. Sie hat auch Albträume. Es ist fast zur einer Routine geworden. Das Knarzen von Agon's Tür und die kleinen Schluchzer von dem süßen Mädchen. Er macht es jede Nacht. Als Kind bin ich in das Zimmer meiner Eltern gerannt, doch Agon steht schon bei dem kleinsten Geräusch seiner Tochter auf den Beinen. Leider hört man nicht so viel. Doch wenn ich kurz vergesse zu atmen, dann höre ich wie Agon ihr etwas vorliest. Manchmal aber auch, reicht nur die tiefe seiner Stimme, um mich wieder in den Schlaf zu wiegen. Aber das weiß niemand und schämen tue ich mich dafür sehr.

Seit ungefähr sechs Wochen lebe ich in diesem Haus und manchmal wünschte ich mir, dass ich es nicht irgendwann verlassen muss. Die himmlische Atmosphäre, die ich auf dem kuscheligen Teppich fühle, wenn ich mit Dea spiele. Sie ist unbeschreiblich. Das Gelächter von Vater und Tochter im Hintergrund wirkt heilend. Vor ein paar Tagen hat es angefangen zu schneien und Dea wollte gar nicht mehr ins Haus rein. Sie hatte mich dazu gezwungen die Schneeflocken mit ihr zu zählen. Es war sehr unterhaltsam. Ihre Augen strahlten vor Glück und ihr kalten Hände suchten Wärme auf meinen roten Wangen. Doch sobald Agon heimkehrte, wusste ich, dass wir nun die Plätze tauschen müssen. Agon und ich haben nämlich mehrere unausgesprochene Regeln. Die Erste, wir sind nie alleine in einem Raum. Die Zweite, wenn der Eine mit Dea spielt, ist der Andere nicht dabei. Die Dritte, wir halten keine Konversation länger als eine Minute und die Letzte ... wir reden nicht über die Nacht von vor sechs Wochen. Einerseits bedrückt es mich, aber andererseits bin ich froh darüber. Ich habe Sachen gebeichtet, die ich nun bereue und ich glaube, dass es ihm genauso geht. Wir gehen uns, so gut wie es geht, aus dem Weg und das ist das Beste für uns beide.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass er meine Schreie hört. Er hört mein leises Schluchzen hinter den geschlossenen Türen und wie ich darum bete, dass diese Nacht endlich endet. Manchmal, da habe ich das Gefühl ... er ist mir näher als sonst. Als würde ich seinen Atem durch meine Tür hören. Eine Zusicherung, dass er mich behütet und beschützt. Vielleicht bilde ich es mir aber auch nur ein. Vielleicht wünsche ich mir es nur, da ich das Gefühl von Sicherheit verloren habe. Es ist ein verzwicktes Thema. Agon und ich. Ein beendetes Buch. Doch trotzdem öffne ich es immer und immer wieder. Obwohl er mich darum gebeten hat es zu schließen. Warum sehne ich mich daran das Ende umzuschreiben? Es ist schon in Stein gemeißelt, also warum sind dann so viele Fragen unbeantwortet? Und wenn ich eine Antwort bekomme, werde ich das Buch dann in eine dunkle Ecke verstauen können? Oder werde ich mich stets nach Schmetterlingen sehnen?

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