"W-Wie kommen sie an Essen?"

Ich habe schlimme Bedenken vor dieser Antwort, kann mich aber dennoch nicht davon abhalten, sie zu stellen.

Nana bleibt stehen und sieht mich durchdringend an.

"Sie müssen klauen."

Ich schlucke hart und schaue nach oben, wie gerade die Tür aufgeht und der dunkelhaarige Typ, der mich gestern mit Niall entführt hat, verschlafen die Treppen hinuntersteigt. Er gähnt und schaut durch die Menge, bis sein Blick plötzlich an mir hängenbleibt und er anfängt zu grinsen. Schnell schaue ich weg und sehe zu Nana.

Ich möchte ihr sagen, dass das falsch ist. Man darf doch keine anderen Menschen beklauen, um sich selbst zufrieden zu stellen. Anderseits, wenn ich mich hier umsehe, merke ich, dass sie alle keine andere Chance haben. Wie sollen sie sonst weiterleben?

Während Nana mich weiterzieht, stelle ich mir weiterhin die Frage, wie das alles passieren konnte. Warum leben sie alle so, auf diese Art? Was ist passiert, so dass sie in solchen Umständen leben müssen? Weiß mein Vater, dass sie so leben? Wenn ja, hat er versucht etwas dagegen zu tun?

Denkst du sie würden dich dann noch hier festhalten?

Nein, aber ich kann nicht glauben, dass mein Vater davon wusste und bewusst nicht geholfen hat. Das geht einfach nicht. Er würde so etwas niemals tun!

Bevor ich weiter mit meiner inneren Stimme diskutieren kann, bekommt Nana meine Aufmerksamkeit, in dem sie durch ein kaputtes Tor geht. Ich habe gar nicht gemerkt, dass wir die Halle schon durchgequert haben, denn als ich nach hinten sehe, bemerke ich, wie weit zurück Niall und die Schlange ist. Ich folge Nana durch die Tür und bemerke, dass wir vor einem kleinen Wald stehen. Zwar kann man rechts und links die grauen Mauern erkennen, die wohl auch zu diesem alten, fabrikähnlichem Gebäude gehören und mir sagen, dass ich auch von hier nicht abhauen kann, jedoch stehen viele Bäume umher und man hört Vögel zwitschern. Genau wie in einem richtigen Wald.

Verwirrt und neugierig zugleich folge ich Nana den kleinen Pfad entlang. Andere würden wahrscheinlich weglaufen und sich hinter irgendeinem Baum verstecken. Doch mal ehrlich. Wie lange soll ich mich versteckt halten? Und danach flüchten?

Immerwieder duckend, laufe ich ihr hinterher, während sie durch diesen Dschungel läuft, als würde sie auf einem Laufsteg laufen.

"Aaaah!"

Etwas schwarzes springt mir vor die Füße und schreiend falle ich zu Boden und mein Gesicht landet in einer ekligen, dunklen Pampe. Nana fängt an zu lachen, während ich genervt aufstehe und mir versuche den Schlamm aus dem Gesicht zu wischen, was nicht klappt. Ich bin von oben bis unten voll davon.

Ich vernehme ein Kichern und sehe, wie ein kleiner Junge vor mir steht und mich entschuldigend, aber auch amüsiert, ansieht. Er hat dunkle, gelockte Haare und strahlend grüne Augen, genau wie dieser Harry.

"'Tschuldige", murmelt er und ich kann nichts dafür, dass ich weiterhin mein Gesicht verziehe, aber auch irgendwie lächeln muss, da er einfach nur so süß aussieht.

"Cole!"

Der Junge zuckt zusammen und läuft direkt in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ohne auf Nana zu achten, folge ich ihm und sehe, wie er zu einer kleinen Truppe läuft, die zusammen in einem kleinen Kreis sitzen und irgendein Marmeladenglas beobachten.

"Sie haben gerade Unterricht. Wenn es schönes Wetter gibt, dann dürfen sie auch mal raus."

Und tatsächlich ich erkenne den Dunkelhaarigen mit der Zigarette wieder. Er hat eine schwarze Brille auf der Nase und sieht mit seinem schwarzen Tank Top, nicht gerade einem Lehrer ähnlich, jedoch zeigt er den Kindern irgendetwas an diesen Käfern, die er in diesen Gläsern gefangen hält.

Das ist doch einfach unfassbar!

So etwas wie Schule kennen diese Kinder dann gar nicht! Zusammen in der Pause zu spielen, sich ein Pausenbrot zu teilen, das alles gibt es in ihrem Leben nicht. Doch, was mich am meisten schockiert, ist die Tatsache, dass sie dennoch so aussehen, als würde ihnen rein gar nichts fehlen. Ich sehe an dem Strahlen ihrer Augen, wie sie ihrem Lehrer an den Lippen kleben und nur darum beten mehr zu lernen.

Nana's Hand an meiner Schulter, lässt mich aus meinen eigenen Gedanken hochfahren und stumm folge ich ihr weiter. Je weiter wir in den Wald gehen, desto lauter werden die Geräusche. Als würde irgendwo Wasser fließen. Gibt es hier wohl auch ein Wasserfall?

Als wir ganz aus dem Gestrüpp draußen sind, öffne ich meinen Mund, um etwas zu sagen, schließe ihn dann aber wieder doch. Die Mauern gehen an einer Felswand zu ende, an der durch eine freie Röhre, wundervoll sauberes und klares Wasser, in den davorliegenden Teich, fließt. Wahrscheinlich hat sie irgendwo ein Abflussrohr, da um sie herum viele Frauen stehen und Wäsche waschen. Andere sind damit beschäftigt, die Klamotten an die Leinen, die sie auf dem riesen Feld befestigt haben, zu hängen.

Immernoch sprachlos sehe ich den Frauen zu, die dank der warmen Sonne schwitzen und dennoch weiterhin versuchen, den Dreck aus den nassen Klamotten loszuwerden. Ich brauche gar nicht fragen. Eine Waschmaschine gibt es nicht.

Unter ihnen erkenne ich das kleine Mädchen, dass mir heute Morgen das Frühstück gebracht hat, wieder.

"Du siehst lustig aus!"

Sie fängt an zu lachen und die anderen Frauen sehen mich alle überrascht an. Kein Wunder, ich meine, ich bin von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt! Meine Haare kleben mir an meiner Stirn und das Kleid ist völlig hinüber!

"Ehm.., kann ich mich vielleicht waschen?"

Ich sehe Nana fragend an, die jedoch ihren Kopf schüttelt und mir eine Ladung Wäsche in die Arme drückt.

"Erst musst du arbeiten."

"A-aber-"

"Ich würde tun, was man von dir verlangt, denn vergiss nie, du bist nie allein."

Ihre Stimme ist nur ein Flüstern und sie sieht mich durchdringend an, bis sie mich leicht in die Richtung des Teichs schubst. Ich versuche zu begreifen, was sie mir sagen will. Als ich mich umdrehe und zu diesem alten, großen Gebäude wende, weiß ich, was sie meint.

Dort steht er und schaut aus dem Fenster. Und diese blau-grauen Augen finden den Weg zu meinen.

Awaked || l.t ( ON HOLD )Where stories live. Discover now