19 Al-Yunani

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Tom kam ausgesprochen fröhlich nach Hause. Die erste Abiturklausur war geschafft, Deutsch. Natürlich war ein Brecht-Thema dabei - er hatte das andere gar nicht erst angesehen. Er kannte seinen Deutschlehrer gut genug, um zu wissen, dass die 4 schon mal sicher war, wenn die Analyse zu dem Ergebnis „Brecht hat recht" kam. Seine Begründung, warum Brecht recht habe, war 12 Seiten lang, was für eine 2 genügen sollte.

Auf seinem Teller im Esszimmer lagen zwei Briefe, beide ohne Absender, aber einer trug Sophias Schrift. Er ging in die Küche und füllte sich eine ordentliche Kelle Linseneintopf auf. „Brecht macht hungrig," grinste er, löffelte Linsen und öffnete Sophias Brief. „Nur ein Blatt," dachte er noch enttäuscht, dann las er den ersten Satz und legte den Löffel beiseite.

Dreimal las er die wenigen Zeilen. Sophia wollte ihn nicht mehr sehen, bis er die Bundeswehr hinter sich hatte. Dann wollte sie entscheiden, ob ihre Verlobung noch Bestand hatte oder nicht. In der Zwischenzeit würde sie mit Samir zusammen sein. Tom verstand die Worte, aber mehr auch nicht.

Er nahm gedankenversunken den Löffel in die Hand und aß weiter. Die wenigen Sätze konnte er fast schon auswendig. Er wartete vergeblich, dass der Schmerz kam. Er versuchte, die Erleichterung wegzuschieben, die er kurz spürte. Er nannte sich innerlich einen Feigling, weil er einen Moment lang froh war, dem Konflikt so einfach aus dem Weg zu gehen. Als seine Gedanken anfingen, sich darum zu drehen, wie er im Juni in Griechenland ein Treffen zwischen seinen Eltern und Sophia verhindern könnte, schüttelte er den Kopf. Es gab Wichtigeres.

Der zweite Brief fiel ihm ein. Die Schrift ähnelte Daves, aber von ihm konnte er nicht sein, denn die Briefmarke war der Phönix. Er war von Samir, der in einer englischen Schule die lateinische Schrift gelernt hatte – daher die Ähnlichkeit mit Daves Handschrift. Tom las die drei Seiten, und dann konnte er nicht anders: Er musste lachen. Samir schilderte seine Begegnung mit Sophia und entschuldigte sich wortreich, dass er vorher zweimal eine Nacht mit ihr verbracht hatte.

Beim zweiten Lesen erst nahm Tom den Satz wahr, der ihm das Lachen gründlich austrieb. „Ich habe mich gefühlt wie ein Stück Dreck." Er hatte ihn überlesen. Jetzt traf er ihn mit voller Wucht. Er hörte Sophias Stimme, wie sie sich über Mole lustig machte, und er stellte sich Samir in dem VW an der Straße nach Drama vor. Er versuchte, die Frau zu erkennen, die auf dem Fahrersitz saß, seine Verlobte, aber ihm fiel ihr Gesicht nicht mehr ein. Er nahm sein Portemonnaie aus der Tasche und sah sich Sophias Bild an. Sie hatte noch die glatten Haare und die furchtbare schwarze Brille. Das war seine Sophia gewesen. Die Frau auf dem Fahrersitz war es nicht.

Er holte sich einen zweiten Teller Linsen und setzte sich an den Tisch. Die Uhr zeigte 6, in Athen also 7. Er entschuldigte sich in Gedanken bei seinem Vater und wählte Sandys Nummer. Sie telefonierten nur im äußersten Notfall - es war sündhaft teuer -, aber heute machte er eine Ausnahme.

„Nikos, Tom ist dran," hörte er die vertraute australische Stimme. Etwas klapperte.

„Hey Gangster, Post gekriegt?" fragte Nikos.

„Woher..., egal. Ja, einen Brief von Sophia..."

„Ich weiß, vergiss einfach, was sie Dir schreibt."

„Du weißt, was in dem Brief steht?"

Nikos klärte ihn in aller Kürze über den Unfall und sein Gespräch mit Sophia auf.

„Okay, aber da war noch ein Brief von Samir, warte..."

Er las Nikos die Stelle vor, an der der Junge berichtete, wie er sich bei Sophias Besuch in Drama gefühlt hatte.

„Es ist aus und vorbei, Nikos. Selbst wenn wir beiden nicht zusammen wären, hätte ich ein Problem mit ihr. Sie ist nicht mehr die Frau, die ich mal geliebt habe. Es tut noch nicht mal weh, jetzt nicht mehr."

Die richtigen Leute Band 5: Nikos ToursWhere stories live. Discover now