1. Abend

2 0 0
                                    

Selbstverständlich hat Nár dem König die Leviten gelesen und das ist sein gutes Recht. Er ist nunmal die bessere Hälfte ihres Gespanns, wie Thrór weiß. Sein Liebster ist mitfühlend und herzensgut. Und er vergisst seine Versprechen nicht. Auch jene nicht, die keine Versprechen sind, sondern nur Zusagen. Ganz ohne Handschlag und Zeremonie.

Entsprechend still und mit schlechtem Gewissen bis zum Pelzkragen gefüllt, hatte sich Thrór Nárs Rede angehört und nur hin und wieder zustimmend genickt. Mehr oder eine andere Geste hatte er nicht gewagt. »Lass mich machen, Thrór, und bleib mir aus dem Weg«, hatte er am Morgen den König angewiesen. »Kümmere du dich um deine Geschäfte und ich mich um meine.« Thrór hatte sich die Worte seines Gefährten zu Herzen genommen und den Tag mit langatmigen Gesprächen und elbischer Korrespondenz verbracht, auf die er sich kaum hatte konzentrieren können. Wer versteht schon die verworrenen Wortspielereien eines Elben? Doch nur ein Elb selbst.

Davon, was sein Liebster in der gleichen Zeit geschaffen hat, kann er sich am Abend selbst überzeugen: Wieder ist der Berg aus Kissen und Decken vor dem Kamin aufgeschichtet und vermutlich höher, als in den vergangenen Jahren. Schalen mit süßem Gebäck und kandiertem Obst stehen für die jungen Gäste bereit, ebenso wie warme Schokolade. Für den Märchenerzähler selbst wird soeben ein Krug Wein hereingetragen, der süß und würzig duftet.

»Wie gefällt es dir?« Nár ist neben den König getreten und macht eine allumfassende Handbewegung, die das geschürte Feuer im Kamin ebenso einschließt wie das bereitgelegte Buch.

Thrór sieht sich demonstrativ um, dreht sich sogar im Kreis, die Unterlippe grübelnd vorgeschoben. »Nun, mein Lieber«, sagt er schließlich und reibt sich begeistert die Hände. »Du hast dich wieder selbst übertroffen. Der Raum ist heimelig und einladend. Der Wein duftet würzig und das Gebäck sieht so appetitlich aus, dass ich es sofort selbst verspeisen will.« Der König neigt das Haupt vor seinem Liebsten.

»Ich werde dein Lob an die Backstube und unsere guten Geister weitergeben. Ich selbst habe es nicht verdient. Die Zwerge des Berges sind die wahren Empfänger deiner Anerkennung. Ohne ihre Tatkraft und Hilfe müssten wir die Zwerglinge vertrösten und ihre Tränen trocknen.«

Der König stößt einen tiefen Seufzer aus. »Es tut mir leid, mein Herz. Wenn ich bedenke, was meine Ignoranz dir und den Kindern angetan an ...«

»Nun ist es aber gut!«, wird er von Nár unterbrochen. »Du suhlst in Selbstbeschuldigungen und dabei solltest du dich vorbereiten. Deine Enkelkinder werden bald hier sein, wenn sie nicht sogar schon auf dem Weg zu uns sind.«

Als hätte das Schicksal nur auf diese Worte gewartet, klopft es vernehmlich an der Tür.
»Das werden sie sein!« Nervös streicht Nár über sein besticktes Wams und den Bart und zupft auch noch einen Fussel vom Hemdsärmel des Königs. Dabei wirkt er verzückt wie ein verliebter Jungzwerg, der seiner Liebsten Blumen schenken will und nicht weiß, ob er die richtige Wahl getroffen hat. »Ich hoffe nur, ich habe nichts vergessen.«

»Selbstverständlich sind sie es und mach dir nicht so viele Gedanken. Wie immer, wird es perfekt sein«, brummt Thrór und schreitet zur Tür, um sie eigenhändig zu öffnen.
»Großvater!«, ruft Dís und springt ihm regelrecht in die Arme. Erwachsener folgen Frerin und Thorín in die Stube und der Älteste der Geschwister fasst die summende Ungeduld mit einer einzigen Frage zusammen: »Welches Märchen hast du ausgesucht?«

Der König lächelt verschmitzt. »Das mein lieber Thorín werde ich verraten, wenn jeder seinen Platz eingenommen hat.« Einladend deutet er auf den Kissenberg und die bereitgestellten Köstlichkeiten.

Wie ein einziger Wirbelwind stürmen die Gäste auf die Kissen und Decken zu. Thorin lässt sich in die eine Flanke fallen, Frerín mit ausgebreiteten Armen in die andere und Dís bereitet dicht unterm Gipfel ihr Nest. Begeistert scheinen dabei ihre Zöpfe zu wippen und kriegen sich gar nicht mehr ein, als ihr von Frerín ein Becher mit heißer Schokolade und von Thorin eine Schale mit Gebäck gereicht werden. Wie eine Göttin mit lebendigem Haar sitzt sie nun in den Kissen, in der einen Hand das Gebäck, in der anderen der Becher, und jammert, weil ihr zwei Hände zu wenig sind. »Wo soll ich das alles nur abstellen?«

Von Elben und FischenWhere stories live. Discover now