Tränen und ein schlechtes Gewissen

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»Großvater!« Dís helle Stimme tönt fordernd durch den Thronsaal und holt den König unter dem Berg, Herr über das Zwergenreich des Erebors, aus seinen Gedanken. Seit wenigen Minuten ist die Audienz beendet, die Wachen haben sich zurückgezogen und Thrór vermutet, dass seine Enkelin diesen Moment genutzt hat, um vorzusprechen, wie sie es nennen würde. Pah! Die eigentlichen Herrscher sind die drei Zwerglinge, wie er sich selbst eingesteht. Der König ist in diesem Fall der Beherrschte, ein Untertan, der schon beim Anblick des lieben Lächelns und der funkelnden Augen das Unmögliche machbar machen will. Das Gute ist aber auch, dass zugleich das Gefühl der Erschöpfung verschwunden ist, das ihn stets nach einer Audienz befällt. Freude hebt sein Herz und ein Lächeln seine Mundwinkel. Aber das lässt er die junge Zwergin nicht sehen, denn Dís würde es nur zu ihrem Vorteil nutzen und das ausgesprochen reiflich. Sie wickelt ihn sowieso schon zu schnell um den kleinen Finger. Daher verbirgt er es hinter einem Neigen des Kopfes, ganz hoheitsvoll, und lädt somit Dís ein, näherzutreten.
»Was wünscht meine Süße?«

Statt einer ebenfalls privaten Erwiderung versinkt Dís in einem graziösen Knicks, aus dem sie sich ebenso elegant erhebt. »Es ist der vierte Tag nach dem Durinstag«, beginnt sie und ein leises Beben schwingt in ihrer Stimme mit, das König Thrór nicht verborgen bleibt. Auch das Lächeln ist von ihren Lippen gewichen und der Glanz ihrer Augen hat sich verändert. »In den vergangenen Jahren hast du uns den Wunsch nach einem Märchen erfüllt und uns, den Kindern deines Sohnes, damit eine große Freude bereitet. Nun ...« Dís verstummt, wirkt unschlüssig und ein zittriges Seufzen entweicht ihr. »Hast du uns vergessen, Großvater?«, fragt sie mit brüchiger Stimme. Eine einzelne Träne rinnt ihr über die Wange, tropft auf das dunkelblau ihres Kleides herab, wo sie für Augenblicke wie ein Diamant funkelt. Eine weitere folgt.

Eilig steigt Thrór vom Thron herab, über dem der Arkenstein leuchtet. Vor Dís sinkt er auf die Knie und weil eine Krone störend bei einer festen Umarmung ist, poltert sie sie unbeachtet zu Boden. Mehr Aufforderung benötigt Dís nicht, um sich in die ausgebreiteten Arme zu stürzen und das Gesicht im dichten Bart und Haar des Königs zu vergraben.

»Ich würde euch drei niemals vergessen«, versichert er ihr und streicht über den bebenden Rücken. Schluchzer erschüttern den Körper in seinen Armen. »Ihr seid mir das Wichtigste. Aber manchmal gibt es Zeiten, die die ganze Aufmerksamkeit fordern und das Liebste in den Hintergrund rücken.« Ausreden. Herausreden.

Die Erinnerungen von Nár kommen ihm in den Sinn, die er zu einem guten Teil mit »Es ist noch Zeit« abgetan hatte. Dann war Durinstag. Im Berg wimmelte es von Gästen, verlangten nach seiner Gegenwart und er selbst war es zufrieden, von den Kindern nicht behelligt zu werden. Er hatte sie nicht mit fadenscheinigen Ausreden abfinden wollen. Aber was tu ich jetzt?, fragt er sich und fühlt Scham. Ein hässliches Gefühl, wie er sich eingestehen muss.

»Ich habe dich so sehr vermisst, Großvater«, schluchzt Dís und schnieft, bevor ein schwerer Seufzer ihre Schultern hebt und sogar die Arme des Königs weit macht. »Frin und Thin haben gesagt, dass du Vieles bedenken musst. Sie sind schon erwachsen. Sie sagten, ich solle dich nicht stören. Aber es ging nicht mehr.«

Sanft schiebt Thrór Dís von sich, mehr, um ihr ins tränennasse Gesicht blicken zu können, als auch, um sich ganz unköniglich auf den Fußboden der Audienzhalle zu setzen und das Zwergenmädchen auf seinen Schoß zu ziehen. Aus dem fellbesetzten Ärmelaufschlag seines Mantels zieht er ein Tuch heraus, das Nár ihm erst am Morgen dort hineingeschoben hatte. »Du musst mehr auf dich achten, alter Mann«, hatte er dabei gesagt. »In deinem hohen Alter ist man anfällig und bekommt schnell eine Schniefnase.« Am Morgen hatte Thrór darüber noch lachend die Augen verdreht, nun ist er dankbar, dass er mit dem Tuch Dís Gesicht trockentupfen kann.

»Warum bist du nicht zu Nár gegangen? Er hätte mir die Ohren lang gezogen und mir einen Vortrag gehalten, bis mir Hören und Sehen vergeht.« Dís weicht seinem Blick aus, was ihm Antwort genug ist. »Du warst bei ihm und bestimmt hat er über mich geschimpft.« Ein zaghaftes Nicken und verspieltes Zupfen an ihrem Ärmel.

Was und wie Nár geschimpft hat, kann sich Thrór lebhaft vorstellen. Erst heute Morgen hatte sein Gefährte kein Blatt vor den Mund genommen und war nur ruhiger geworden, als ein Bediensteter das Zimmer betreten hatte. »O je!«, murmelt er, als er eins und eins zusammenzählt und sich wünscht so klein zu sein, um in den Fugen zwischen den Bodenfliesen zu versinken.

»Ich bin ja so ein Bergtroll!«, schimpft er und greift sich an die Stirn. »Nár hat es mir klar und deutlich gesagt und ich Lumpenhecht habe nicht begriffen, was er mir erzählt.« Um Verzeihung heischend sieht er Dís an, die sich wieder erhoben hatte und auf das Häuflein Verzweiflung blickt. »Es tut mir so unsagbar leid, meine Süße, was für ein hirnloser Waldelb ich doch bin. Ich werde alles wieder gutmachen, was ich falsch gemacht habe, nur weil ich nicht zuhören konnte«, verspricht der König und hebt sogar eine Hand im Schwur, die andere aufs Herz gelegt. »Kommt morgen Abend zu uns. Wie jedes Jahr. Ich muss Abbitte bei euch leisten und auch bei Nár und mir etwas Außergewöhnliches für euch einfallen lassen – aber nun hilf mir hoch, mein Kind. Alte Knochen und kalter Fußboden vertragen sich nicht recht. Die Gelenke knarren wie rostige Scharniere.«

»Ach, Großvater!« Dís seufzt und greift nach der ausgestreckten Hand. »Du bist nicht alt. Vater sagt immer, du wärst gereift wie guter Käse oder Wein.«

Thrór ist sich nicht ganz sicher, ob er die Äußerung als Kompliment auffassen kann, weil alter Käse nicht nach seinem Geschmack ist und besagter Wein herb und kratzig. Jugendliche Weichheit und Süffigkeit sind dann nur noch Erinnerung. »So, so, das sagt er«, murmelt er daher nur, bevor er sich ächzend und mit Dís Hilfe auf die Knie und dann auf die Füße stemmt und sich alt fühlt. Uralt. So alt wie der Arkenstein, der über dem steinernen Zwergenthron im schwarzen Basalt eingelassen ist und dort wie ein Stern am Firmament leuchtet.
»Sag deinen Brüdern Bescheid, mein liebes Kind«, fordert der König Dís auf. »Sag ihnen, dass ihr herzlich in meinen Räumen Willkommen seid, wie auch schon in den Jahren zuvor.«

Das feingeschnittene Gesicht erhellt sich mit einem Lächeln und Dís fällt in einen tiefen Knicks, wie es sich gegenüber einem König geziemt. »Das werde ich, Großvater. Jetzt gleich.« Nach einem weiteren Knicks, nun jedoch eilig, eilt Dís aus dem Thronsaal und der König seufzt über den eigenen Verlust der jugendlichen Beweglichkeit.

»Und ich werde mich meinem Nár stellen«, murmelt Thrór in seinen Bart und wendet sich der Tür zu, die in einer Nische hinter dem Thron verborgen ist. »Das habe ich dir gesagt, wird er sagen. Schon seit Wochen und dass ich nicht hatte hören wollen. Und er hat so Recht damit.«


Von Elben und FischenWhere stories live. Discover now