1. Advent - Der Ursprung des Wernachtsmanns

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von Wacrie

Die friedlich fallenden Schneeflocken, welche still an meinem Fenster in Richtung Erde vorbeihuschten, standen konträr zu meinem aufgewühlten Gefühlsleben. Bilderbuchartig bedeckte die weiße Schneeschicht die Straßen und ich hatte mich gefreut, dort hinauszugehen.

Heute war Weihnachten, normalerweise ein Tag, auf den ich mich freute und dem ich entgegenfieberte. Dies hatte ich bis gerade eben getan.

Fassungslos starrte ich auf meinen Bildschirm, seitdem die kleine Anzeige lautstark aufgeploppt war. Das konnte nicht wahr sein!

Ich war oft ein wenig verplant, hatte mir deswegen eine Erinnerungs-App eingerichtet, damit mir keine größeren Fauxpas passierten.

Heute war Vollmond.

Diese Tatsache bedeutete nur den wenigsten etwas. Mir meistens ebenfalls nicht übermäßig viel - aber es war gleichzeitig Weihnachten und ich ein Werwolf.

Das brachte meine ganze Planung in die Bredouille.

Sonderlich gerne lebte ich meine wölfische Seite nicht aus. Ich kugelte mich meistens im Bett zusammen und hoffte, dass dieser Zustand bald vorbei wäre und ich mich in einen Menschen zurückverwandeln würde. Es war erträglich und geschah nur einmal im Monat.

Zumindest kontrollierte ich mich während meiner Verwandlung und auch danach und überließ mich nicht vollkommen meinen Instinkten, wie es so viele andere Leidensgenossen taten. Ich war ein Vorzeigewolf mit einer blütenreinen Weste: Keinen einzigen Menschen hatte ich verletzt, getötet oder gar gebissen.

Es lag mir fern, diesen Umstand heute zu ändern und meinesgleichen weiter in Verruf geraten zu lassen. Nicht jeder Werwolf war gefährlich, auch wenn die Medien stets versuchten es anders darzustellen.

Schon längst hätte ich auf dem Weg zu der ersten Familie sein sollen. Unbarmherzig saß mir die Zeit im Nacken und ich musste mir dringend etwas einfallen lassen.

„Komm schon Namjoon, denk nach...", redete ich mir gut zu.

Meine Kunden verließen sich auf mich. Es war vollkommen inakzeptabel, sie jetzt im Stich zu lassen. Die Schnösel aus dem Reichenviertel hatten bereits im Voraus bezahlt und ordentlich Geld springen lassen, auf das ich angewiesen war. Wenn ich heute nicht bei ihnen aufkreuzte, würde ich bald ebenfalls zu den zahlreichen obdachlosen Werwölfen auf der Straße gehören. Es war schwer genug, an eine gut bezahlte Arbeit zu gelangen und ich würde meine Kunden nicht enttäuschen.

Die Eltern waren da das geringste Übel. Die Kinder, die auf ihren Weihnachtsmann warteten, würden es ohne Zweifel nicht verkraften, wenn der einfach nicht auftauchte.

Seufzend schälte ich mich aus der dicken blauen Jacke und warf mir den roten Umhang meines anderen Kostüms über. Es war keine vorteilhafte Lösung, aber immerhin war es eine. Der wallende Mantel würde meine nicht menschlichen Proportionen verbergen, auch wenn er nicht zu meiner blauen Hose passte. Der Umhang besaß praktischerweise eine Kapuze, die ich mir tief ins Gesicht ziehen konnte. Er war perfekt. Wenn ich mir außerdem meinen dicken Rauschebart ins Gesicht hing, würde vielleicht niemand merken, dass etwas nicht stimmte ...

Skeptisch betrachtete ich mich im Spiegel.

Ich sah sogar jetzt – derzeit ganz und gar menschlich – vollkommen bescheuert aus.

Es half alles nichts.

Mit so viel Würde, wie ich aufbringen konnte, schnappte ich mir meine Autoschlüssel, mein Telefon sowie den leeren Jutesack und verließ mit einem flauen Gefühl meine Wohnung.

Wernachtsmann - eine launige Erzählung in vier Akten -Kde žijí příběhy. Začni objevovat