24. Annies Geheimnis

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Agostino im Jahr 471 von Großverdura

Agostino - Monat des Weines (zweiter Herbstmonat)


[Saira]

Das Anwesen des Meisters besaß zwei Stockwerke. Beide waren durch Treppen miteinander verbunden. In der ersten lagen die Gästekammer, darunter jenes von Emanuel. Im zweiten Stock wohnten der Meister und seine Frau, sowie in einem getrennten Appartement ihr Sohn Sandro. Es gab aber auch noch eine weitere Kammer dort oben, wo Natalia Besen und andere Putzsachen aufbewahrte. Ein Klappfenster in der Decke war mit Holzläden verschlossen. Doch Saira brauchte nur einen Riegel beiseite zu schieben, um die Holzläden zur Seite zu ziehen. Mit beiden Händen stützte sie sich auf die Fensterseiten und zog sich hoch. Früher hätte sie dafür einen Hocker gebraucht, doch in den letzten Monaten hatte sie sowohl an Größe als auch an Kraft hinzu gewonnen. Mühelos gelangte sie durch das Fenster auf das Dach. Kalte Nachtluft empfing sie. Ein heller Dreiviertelmond begrüßte sie mit seinem hellweißen Licht.

Wie kaum anders zu erwarten, hatte Meister Fabio darauf geachtet, dass sein Anwesen das höchste auf der achten Terrasse war, darum bereitete es Saira keine Schwierigkeiten über die Dächer der anderen Häuser bis auf das ferne Meer hinauszuschauen. Silbrig spiegelte das Meer das Licht des Mondes und war selbst auf die Distanz noch gut zu erkennen. Außerhalb der Mondspiegelung breitete sich Dunkelheit über der Stadt und dem Meer aus. Trotzdem wusste Saira nur allzu genau, egal wie lange sie in die Ferne starrte, sei es auch bis zur Mittagsstunde, dort draußen würde nichts weiter sein als das weite Meer. Irgendwie war Saira das Meer immer sowohl unheimlich, als auch hoffnungsvoll erschienen: Ein unüberwindbares Hindernis bei ihrer Flucht aus Agostino und gleichzeitig das Versprechen, dass es dort draußen mehr gab als diese eine Stadt, an die man sie gekettet hatte. Jetzt wusste Saira sicher, dass es dort jenseits des Meeres ein Land gab. Abbelonaith. Es musste eine lange und gefährliche Reise sein. Nur Verzweifelte oder Narren nahmen sie auf sich, wie Emanuel behauptet hatte. Saira hielt sich für beides: Sie suchte verzweifelt einen Weg aus diesem Leben und war närrisch genug, keinen anderen Pfad als den nach Abbelonaith einzuschlagen. Finde Abbelonaith. Ob ihr Vater und ihre Mutter ebenfalls diesen Pfad eingeschlagen hatten? Warteten sie vielleicht dort, jenseits des Meeres auf ihre Tochter? Saira hatte solche Fragen in den letzten Jahren allzu oft verdrängt, riefen sie doch nichts als Schmerz und Trauer wach. Jetzt jedoch, da sie bereit und entschlossen war, die Reise auf sich zu nehmen, schickten sich all die versteckten Hoffnungen an, aus ihrem Unterbewusstsein hervorzutreten. Eine einzelne Träne kullerte ihre Wange hinab.

Abbelonaith. Ich habe tatsächlich einen Weg nach Abbelonaith gefunden. Saira musste sich eingestehen, dass sie die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte. Wie hätte ich auch damit rechnen können, dass ausgerechnet eine Legende der Norviska mich auf die richtige Spur bringt. Und Emanuel? Eigentlich sollte es mich wohl nicht mehr überraschen. Trotzdem, er bleibt mir ein Rätsel. Wenigstens wird er mir und Sen helfen nach Poradis zu gelangen. Dort werde ich die Kaiserin bitten, eine Expedition nach Abbelonaith auszusenden. Sie muss es einfach tun. Selbst, wenn die Kaiserin ihre Bitte ausschlagen würde, würde Saira nicht mehr aufgeben. Sie könnte immer noch weiter in den Norden segeln und nach Alfric suchen oder einen anderen Weg, um nach Westen zu gelangen. Egal, wie lange es noch dauern würde. Sie würde sich nicht davon abbringen lassen. Sollte es auch noch einmal acht Jahre dauern, bis sie ihr Ziel erreichte.

Saira blickte auf das Meer hinaus. Die Dunkelheit in der Ferne erschien ihr vielversprechend und angsteinflößend zugleich. Lange hatte sie von einer Flucht geträumt. In wenigen Wochen würde es endlich soweit sein. Sobald Emanuel mit dem Meister aus Dorcha Mor zurückgekehrt war. Eigentlich eine immer noch viel zu lange Zeit. Einen kurzen Augenblick kroch da ein Impuls in ihr hoch. Was wäre denn, wenn sie einfach jetzt sofort die Flucht ergriff? Sie könnte sich auf irgendein Schiff schleichen und davon segeln und allein nach Abbelonaith weitersuchen. Sicher würde Sen sie begleiten, wenn sie ihn jetzt aufweckte. Sofort rief eine kluge Stimme in ihrem Innern: Nichts überstürzen. Sie hatte nur diese eine Chance, das war ihr klar. Würde man sie fangen, würde man sie durch die Stadt treiben und als Unfreie zu Strafen drakonischen Ausmaßes verurteilen. Vor allem seit der Flucht des Unfreien Bogoris schienen die Strafen noch einmal schärfer geworden zu sein. Nein, sagte sich Saira. Sie durfte jetzt nichts überstürzen. Auf den letzten Metern keine Dummheit begehen. Im Frühjahr würde sie zusammen mit Emanuel fliehen. Bis dahin musste sie sich noch gedulden.

Abbelonaith - Das vergessene LandTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang