09. Das Land der Träume

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Agostino im Jahre 471 von Großverdura

Rey - Monat der Eroberer (erster Sommermonat)


[Saira]

„Aufstehen, aber Pronto!" Lautes Klopfen ließ Saira aus ihrem Schlaf schrecken. Müde rieb sie sich die Augen, während erneut vehementes Hämmern an ihre Ohren drang. „Aufstehen, Aufstehen! Was treibst du eigentlich schon wieder da drin?"

„Bin ja schon wach", stöhnte Saira und wälzte sich im Stroh.

„Wird aber auch Zeit." Dumpf drangen die Schreie von Natalia durch die Tür ihrer Schlafnische. „Der Frühstückstisch deckt sich nicht von allein. Mach dich endlich fertig!"

Einen Wutschrei unterdrückend, stemmte sich Saira auf ihre Knie, wobei sie nicht vergaß, den Kopf eingezogen zu halten. Trotz ihrer gebückten Haltung spürte sie die Decke über ihrer Kopfhaut. Hätte sie jetzt noch die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt, so hätte allein ihre schmächtige Gestalt den Großteil der Nische eingenommen, welche Saira ihr Reich nennen durfte. Eine winzige Kammer, kaum mehr als ein Besenschrank, versehen mit einer Strohmatratze. Auf Fenster hatte man ebenso verzichtet, wie auf jede Form von Annehmlichkeit. Im Grunde, so hörte Saira Natalia wiederholt predigen, stellte schon dieser Komfort ein ungeheuerliches Entgegenkommen an eine Unfreie dar. Vermutlich konnte Saira froh sein, nicht draußen bei den Pferden schlafen zu müssen. Wieder einmal gelang es Saira, die kochende Wut, die sich in ihrem Innern aufgestaut hatte, zu unterdrücken. Anstelle wie eine Wahnsinnige auf Natalia und den gesamten Haushalt loszugehen, zog sie deswegen jetzt ein Messer aus einer losen Holzdiele unterhalb ihres Bettes. Wenn man so wollte, dann war diese Holzdiele eine Art Versteck, in welcher Saira ihre wenigen kostbaren Habseligkeiten aufbewahrte. Dazu gehörte neben dem Messer ein kleiner Beutel mit einigen Groschen.

Saira umfasste den Griff des Messers. Der Griff war abgenutzt, die Klinge schartig. Doch es genügte, um eine einzelne Kerbe in das Holz der Wand zu ritzen. Hätte Saira ihre Finger über die Wand gleiten lassen, sie hätte hunderte solcher Kerben dort in der Dunkelheit ertastet. Genau genommen wusste Saira, waren es zweitausend und vier. So viele Tage schon befand sie sich als Unfreie im Haus des Meisters. Zweitausend und vier Tage, etwas mehr als acht Jahre, in denen Saira nicht die Hoffnung aufgegeben hatte, dass dort draußen eine bessere Zukunft auf sie wartete. Schnell versteckte Saira das Messer wieder unter der Holzdiele, dann tastete sie sich auf Knien zum Ausgang ihrer Nische.

Eine Tür konnte man diesen Ausgang nicht nennen, eher ein Fenster oder eine große Schranktür. Hinter dem Ausgang begann der Kachelboden der Küche. Ein Geruch nach frisch gebackenem Brot wehte vom Ofen her. Natalia legte soeben Holz im Ofen nach. Am gegenüberliegenden Ende der Küche kroch soeben Annie, die zweite Küchenmagd aus ihrer Nische. Im Gegensatz zu Saira, schaffte es Annie schon nach dem Aufstehen so auszusehen, als könne sie sofort mit der Arbeit beginnen. Ihr rabenschwarzes Haar fiel glatt ihre Schultern hinab. Irgendwie hatte es Annie in all den Jahren auch geschafft, nie dunkle Ringe unter den Augen zu bekommen, ganz anders als Saira. Ein nicht unwesentlicher Grund hierfür dürfte sein, dass Saira sich bevorzugt abends aus dem Haus schlich, während Annie wie ein braves Schulmädchen zu Hause blieb und der Meisterin beim Stricken half.

„Macht euch fertig", schnauzte Natalia die beiden Unfreien an. Saira und Annie gingen hinüber in einen kleinen Nebenraum, wo eine Waschschüssel und die Dienstkleidung des Hauses bereitstanden. Kurze Zeit später war Saira in ihre Arbeitskleidung geschlüpft, ein einfaches grünes Kleid, auf dessen rechter Seite das Emblem einer Rose gestickt war – das Wappen der Sabatini Generos. Ein kritischer Blick in die Waschschüssel verriet Saira, dass ihre Haare immer noch in alle Richtungen abstanden. „Ich geh schon mal in die Küche", sagte Annie, während Saira mit ihren Haaren kämpfte. Im Grunde war es ihr herzlich egal, ob die Haare nun alle glatt an lagen oder sie wie ein Igel herumlief. Der einzige Grund, warum sich Saira überhaupt die Mühe machte, ihre Haare in Ordnung zu bringen, war Natalia, die nur darauf wartete, Saira wieder einmal wegen irgendeinem Missgeschick dranzukriegen. Schließlich entschied Saira, dass sie alles unternommen hatte, was möglich war und begab sich in die Küche. Der kritische Blick der Alten legte sich auf Saira. „Ein Fortschritt", kommentierte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Kurz schien es, als wolle Natalia doch einmal mit dem Holzlöffel ausholen, beschied sich dann jedoch damit, Saira Anweisungen zu geben.

Abbelonaith - Das vergessene LandWhere stories live. Discover now