19. Nächtlicher Überfall

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Agostino, Republik Sicalia im Jahr 471 von Großverdura

Raccolto - Monat der Ernte (erster Herbstmonat)


[Saira]

Dunkelheit lag bereits über der Stadt, als Saira und Sen den Hafen erreichten. Die Nächte in Agostino waren angenehm kühl, selbst im Hochsommer. Darum fanden sich auch jetzt wieder viele Menschen in den Gassen ein, um gemeinsam den Abend zu verbringen. Pärchen saßen eng umschlungen beieinander, Seemänner würfelten um ihren Lohn und Sen stürzte sich ins Messerwerfen. Da John mit seinem Vater die Stadt bereits verlassen hatte, musste heute Lupa, ein zahnloser Kriegsveteran gegen Sen herhalten. Obwohl Lupas rechtes Auge von einer Klappe verdeckt wurde, besaß er eine treffsichere Wurfhand und machte Sen zu schaffen. Am Ende gewann Sen die entscheidende Runde und kaufte von dem Preisgeld ein Bier für sich und Saira. Die beiden zogen sich in eine dunkle Ecke des Ertrunkenen Fisch zurück, redeten über die neuesten Gerüchte und das Duell von Bogoris Johnson. Mochte das Duell jetzt auch einen halben Monat zurückliegen, so war der Name Bogoris Johnson selbst jetzt noch in aller Munde. Sen wollte von Saira ein ums andere Mal wissen, wie der Kampf abgelaufen war und natürlich wollte er auch alles wissen, was nach dem Duell geschehen war. Sen selbst hatte auf Befehl des Meisters zu Hause bleiben müssen. Damit war Sen wohl der einzige junge Mensch in ganz Agostino, der das Duell verpasst hatte.

„Das ist einfach nicht fair!", beschwerte sich Sen gegen Mitternacht. „Warum hat Emanuel mich nicht auch mit zu dem Duell genommen?"

„Du hättest ihn fragen können", meinte Saira achselzuckend. Dann fiel ihr wieder etwas ein. „Sandro war übrigens bei dem Duell auch anwesend. Hat er sich rausgeschlichen?"

„Ja", brummte Sen verstimmt. „Wo warst du die letzten Wochen? Hast du nicht mitbekommen, welchen Ärger Sandro deswegen bekommen hat? Der Meister hat ihm eine Tracht Prügel erteilt und eine stundenlange Predigt über das Verhalten eines Sabatini Genero gehalten. Danach war Sandro tagelang richtig schlechter Laune. Er und seine Kumpanen haben den halben Monatslohn von mir gefordert. Und als ich gesagt habe, sie sollen sich zum Teufel scheren, haben sie angefangen, mich zu verprügeln."

„Was!", rief Saira entsetzt aus. „Sen, warum hast du mir das nie erzählt?"

„Was hätte es geändert?", zuckte Sen die Achseln. Dann blickte er sie streng an. „Aber sag mal, Saira. Du hast von alledem wirklich nichts mitbekommen?"

„Nein", gestand Saira betroffen. Tatsächlich erinnerte sie sich nicht daran, in den letzten Wochen überhaupt länger als ein paar Stunden zum Schlafen im Anwesen des Meisters gewesen zu sein. Nachdem Annie sich von ihrer langen Krankheit einigermaßen erholt hatte, verbrachte Saira jetzt den meisten Teil des Morgens bei den Recherchen im Archiv. Nachmittags ging es zum Waffentraining und im Anwesen angekommen, fiel Saira meist in einen erschöpften Schlaf. Tatsächlich konnte sich Saira nicht einmal mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal mit Sen hier im Ertrunkenen Fisch gewesen war.

„Ich habe wohl in letzter Zeit etwas viel um die Ohren gehabt", gestand Saira und blickte Sen entschuldigend an. Dieser stieß einen Seufzer aus. „Ja, es war kaum zu übersehen. Um ehrlich zu sein, habe ich mir etwas Sorgen gemacht, Saira. Was will dieser Emanuel nur den ganzen Tag lang von dir!"

„Na ja, weißt du..." Saira biss sich leicht in die Lippe. Sie überlegte, was sie Sen erzählen konnte. Sen wusste bereits, dass sie Emanuel im Archiv half. Doch sie hatte Emanuel versprochen, seine Absichten geheim zu halten. Dann war da noch die Sache mit dem Waffentraining... Aber Saira hielt es für eine schlechte Idee, Sen gegenüber dieses Geheimnis preiszugeben. Immerhin wollte Sen selbst nichts sehnlicher als ein Soldat werden. Sie fürchtete, er werde es ihr übelnehmen, wenn sie seinen Traum lebte. Schließlich entschied sich Saira dazu, Sen zumindest einen Teil der Wahrheit zu offenbaren: „Weißt du, ich habe Emanuel um Hilfe gebeten. Wegen unserer Fluchtpläne."

Abbelonaith - Das vergessene LandWhere stories live. Discover now