Langsam atmete ich ein. Ruhig bleiben, befahl ich mir.

„Dann muss es mit unserem Bruder zusammenhängen.", schätzte er. Henry tätigte einen Spielzug. Genau in diesen Moment sah ich meine Chance. Sie war so offensichtlich, als wollte sie mich auslachen. Der Ältere bemerkte es nicht oder tat zumindest so. Gedanklich wägte ich ab. Wäre es riskanter, es zu wagen oder riskanter, es nicht zu tun? „Du hast Angst vor Damian.", stellte er fest. „Wer nicht?", fragte ich ausdruckslos. Von unten sah ich zu ihm auf, während meine Hand sich auf dem Brett bewegte. Riskant oder nicht konnte nicht, durfte nicht, zu meiner Entscheidung betragen. Nicht diesmal und auch nicht in Zukunft.

„Du forderst meinen Schutz vor ihm. Das ist, was du von mir willst. Schutz." Schallend fing ich an zu lachen, weshalb sein Lächeln augenblicklich verging. Wut glitzerte hinter seinen Augen auf. Von meiner Reaktion war er nicht sonderlich angetan. Zornig stand er auf, die Hand geballt. Für einige Sekunden lang probierte er, mich einzuschüchtern, aber ich beachtete ihn gar nicht. Aus Versehen geriet ich in einen Lachkrampf. Als versuche sie, mir zu helfen, begann auch Ruby zerknautsch an, zu lachen. Sein Blick blieb an ihr hängen und erwürgte sie mit seinem Gesichtsausdruck. „Ihr beiden schon wieder!", rief Henry aus, bevor er sich langsam einkriegte. Mit der Hand fuhr er sich übers Gesicht, dann fiel er zurück auf seinen Sessel. Erschöpft lehnte er sich auf eine Armlehne. Mit links schmiss er mir eine Figur zu. Sie landete auf meinem Schoss. Er blickte nicht einmal richtig hin, erkannte gar nicht den Fehler, den er soeben begangen hatte.

Ich riss meine Augen auf, während ich seine Figur vor mir liegen sah. Zittrig umgriff ich die weiße Dame. Das Spielfeld wirkte leer ohne sie. Frei und einfach. Ich konnte den Sieg unter meinen Fingerkuppen fühlen. Er hatte ihn soeben auf mich geschmissen. Ich bewegte meinen Spieler, leise hauchte ich: „Schach." Sofort setzte er sich auf, als wäre ihm meine Anwesenheit entgangen. Entgeistert musterte er das Feld. Verwirrt blickte her vor und zurück, suchte die Verteidigung, die er unbewusst aufgegeben hatte. Er fand sie in meiner Hand.

Minutenlang überlegte er, grübelte, aber beide wussten wir, dass er verloren hatte. Sein König war eingeengt, konnte nirgendwohin, niemand konnte ihm mehr helfen. Langsam fiel die entscheidende Figur zu Boden, beendete damit unsere Partie.

Ich hatte das Gefühl, das erste Mal seit dem Start des Spiels atmen zu können. Seufzend nickte Henry mir zu. „Du gewinnst, ich verliere. Was ist deine Forderung? Erinner dich, du hast nur eine. Auf jede andere, seitens dir oder deiner Gruppe, werde ich nicht mehr eingehen."

Ich nickte stumm und überlegte mir eine Formulierung. Ich konnte ihn fordern, Damian für mich zu hintergehen. Mir wichtige Informationen zu beschaffen. Ihm in den Rücken zu fallen.

Gerade öffnete ich meinen Mund, da begegnete ich den Blick der Rothaarigen. Ich stockte. Ich fand Trauer in ihren Augen. Da ging es mir auf: Sobald ich meine Forderung ausspreche, schwand ihre jegliche Hoffnung, ihren Bruder zu finden. Konnte ich das? Aber wie konnte ich nicht? Das Gewicht einer Nation lag auf meinen Schultern. Ich konnte es nicht aufgeben, nur für die geringe Möglichkeit, dass zwei Geschwister wieder zusammenfanden. Sie besaß dieses unbrechbare Band zu ihrem Bruder - den letzten Teil ihrer Familie. Ich schloss meine Augen.

Eine Familie.

Etwas das ich nie hatte.

Ich hatte bereits eine Entscheidung gefällt, trotzdem trauerte ich der verlorenen Chance hinterher.

„Du musst jemanden finden. Einen Jungen. Damian hat ihn vor einiger Zeit festgenommen. Sein Name ist Sasha." Überraschung lag in den Gesichtern der Anwesenden. In meinem nicht minder. Ich bereute es dennoch nicht. Etwas in mir vertraute auf dieses Bauchgefühl.

Ich musste daran festhalten. An mir. An der Person, die jedes Leben und jede Geschichte schätzte. An das Hinterbleibsel von Taehyung, das begann, schwächer in mir zu schlagen. Ich musste es festhalten, so fest, dass es womöglich unter meinen Fingern zerbrach. Aber ich musste. Es war wichtig. Denn was bleib, würde ich mich selbst verlieren?

𝐅𝐨𝐮𝐫 𝐒𝐲𝐥𝐥𝐚𝐛𝐥𝐞𝐬 (𝖳𝖺𝖾𝗄𝗈𝗈𝗄)Where stories live. Discover now