Epilog

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NEUTRALE SICHT

Marius stand über den bereits verwitterten Grabstein gebeugt. Obwohl der Tod dieses Menschen erst einige Jahre her war, hatte das kalte Wetter dem Stein übel mitgespielt. Und da das Grab nicht gepflegt wurde, war es auch kein Wunder, dass es hier etwas verwildert aussah. Marius freute das allerdings. Das einzige Grab, um das er sich regelmäßig zusammen mit Kiara kümmerte, war das von Diana und das erstrahlte selbst im tiefsten Sturm wie eine aufgehende Sonne. Sie waren auch mit den Kindern, die mittlerweile gut eineinhalb Jahre alt waren, sehr oft am Grab von Kiaras Mutter. Da Finja ihren Namen als Zweitnamen trug, hatten sie ihrer Tochter natürlich erzählen müssen, was für eine Heldin ihre Namensgeberin gewesen war. Aber dieses Grab war anders. Dieses Grab wirkte alt, trostlos und tot. Ein lustiger Zufall, wie Marius fand. Ein totes Grab. Aber genau so sollte es auch sein. Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und sah auf das Grab hinab.
"Nur, dass du es weißt: Sollten Mgnus und Madeleine aus dem Knast kommen, bevor sie zu alt sind, um überhaupt von alleine zu atmen, dann werde ich dich dafür verantwortlich machen", knurrte Marius. "Mir egal, ob du etwas dafür kannst oder nicht. Du bist schuld. Schuld an allem - so wie immer." Keine Antwort. Alles andere hätte Marius allerdings auch verwundert. Tote sprachen schließlich nicht und dieser erst recht nicht mehr. Sonst hätte Marius mit einer Schaufel so lange auf die Erde und den Stein eingeschlagen, bis die Stimme verschwunden wäre.
"Sprichst du immer mit den Gräbern von toten Menschen?" Marius drehte sich um. Ein großer Mann kam auf ihn zu. Er war Marius durchaus bekannt, schließlich hatte er ihn hierher gebeten. Seinen Namen kannte er allerdings nicht.
"Nein, nur mit diesem", antwortete Marius ihm wahrheitsgemäß.
"Tja, ist ja deine Sache. Ich wollte dir nur sagen, dass es sich einrichten lässt, dass diese beiden Leute überwacht werden. Mach dir keine Sorgen, sollten sie auch nur einen Mucks von sich geben, wird dafür gesorgt, dass sie wieder ruhig sind. Sie kommen erst wieder raus, wenn sie sich nicht mal mehr von alleine den Arsch abwischen können", erwiderte der Mann, Marius nickte.
"Danke. Wie viel schulde ich dir dafür?", fragte er nach, der Mann winkte ab.
"Lass stecken, du warst früher schon ein guter Kunde. Die Bezahlung wird erst fällig, wenn... Unannehmlichkeiten anfallen", antwortete er ihm. "Das wäre es von mir. Brauchst du noch was?"
"Nein, danke dir. Wir sehen uns", erwiderte Marius.
"Hoffentlich nicht so bald." Kaum, dass der Mann wieder gegangen war, klingelte Marius' Handy. Er nahm ab, als er Kiaras Nummer aufleuchten sah.
"Hey, Süße. Ich bin gleich wieder vom Einkaufen zurück, was gibt's?", fragte er, während er im Hintergrund schon Geschreie hören konnte.
"Wie lange brauchst du noch? Die Zwillinge schreien, seitdem du weg bist! Vor allem Finja!", antwortete Kiara gestresst.
"Ich bin in zehn Minuten da, tut mir leid. Ich war noch tanken", log er. "Ich beeile mich, versprochen." Damit legte er auf und lief zurück zum Auto.

Als er zuhause ausstieg und zum Stall lief, kam er an dem Rohbau vorbei, der in einigen Monaten sein und Kiaras neues Zuhause werden würde. Die beiden hatten sich ein Haus bauen lassen, damit die Kinder später auch eigene Zimmer und damit auch etwas mehr Privatsphäre haben konnten. Schon als er die Tür zum Stall öffnete, konnte er seine Kinder weinen hören und beeilte sich damit, die Treppe hinaufzukommen. Als er die Tür öffnete, sah er Kiara auf dem Wohnzimmerboden sitzen, wo sie versuchte die Zwillinge mit etwas Spielzeug abzulenken, aber das schien die beiden nicht zu interessieren. Doch als die Tür zufiel und Marius die Tüten auf dem Küchentisch abstellte, drehte Finja sich um. Das kleine Mädchen kämpfte sich etwas mühsam auf die Beine und torkelte auf ihren Vater zu, während sie die kleinen Ärmchen nach ihm ausstreckte.
"Papa!", rief sie weinerlich, worauf Marius sie hochob und ihr die Tränen von der Wange küsste.
"Ja, ist doch gut, meine Süße. Ich bin ja wieder da und es tut mir leid, dass ich euch nicht mitgenommen habe", beruhigte er sie und strich ihr über die hellbraunen Haare, die zu einem kleinen Zöpfchen geflochten worden waren. Finja umarmte ihren Vater, während auch Jonas mit dem Weinen aufhörte und von Kiara hochgehoben wurde. Im Gegensatz zu seiner Schwester sprach er noch nicht wirklich und hing an seiner Mutter wie ein alter Kaugummi an einer Schuhsohle, aber auch ihn liebte Marius unabdingbar. Er gab auch seinem kleinen Sohn einen Kuss. "Hat es denn keinen Spaß gemacht mit Mama zu spielen?"
"Nein. Du", antwortete Finja ihm und drückte sich an seine Seite. Sie war wirklich das Vaterkind schlechthin. Marius drückte sie an sich und sah Kiara entschuldigend an.
"Ich spiele gleich mit dir, ich muss erst noch schnell die Einkäufe einräumen. Möchtest du mir helfen, Schätzchen?", erwiderte er, Finja nickte.
"Ja", antwortete sie.
"Und wir räumen solange mal das Spielzeug auf, oder, Joni?", fragte Kiara ihren Sohn, der nur stumm nickte und sich an die Brust seiner Mutter drückte. Marius setzte derweil Finja auf der Küchentheke ab und gab ihr die Sachen, die sie in den Kühlschrank direkt neben sich legen konnte. Neugierig beobachtete sie ihren Vater dabei, wie er ihr jedes Lebensmittel benannte und aus der Tasche holte. Als nur noch eine Fernsehzeitschrift übrig war, griff Finja sofort danach und legte sich sie in den Schoß, als wollte sie sie lesen. Sie schlug sie auf und blätterte etwas ungestüm durch die Seiten, bis sie an einem Bild von Dornröschen hängen blieb, deren Spielfilm heute Abend laufen sollte. Neugierig betrachtete sie das Bild und die umliegenden Buchstaben. Sollten sie ein Wort ergeben? Dahinter musste doch eine Logik stecken! Während sie mit dem Finger die Buchstaben interessiert nachfuhr, hatte Jonas ein kleines Spielzeugpferd vom Boden in die Hand genommen. Es war braun-weiß gescheckt und seine Mähne wehte im Wind. Begeistert betrachtete er das Pferd und hielt es dann seiner Mutter hin.
"Ha!", sagte er stolz.
"Ja, du hast das Pferd gefunden, super, mein Süßer. Willst du es mir geben und ich räume es in die Kiste?", erwiderte Kiara und streckte die Hand nach dem Pferd aus, doch Jonas schüttelte den Kopf und drückte das Pferd an sich. Damit würde er heute Abend ins Bett gehen, ganz sicher. Dieses Wesen faszinierte ihn zu sehr, um es loszulassen. Genauso wie die großen Wesen unter der Wohnung. Eines Tages würde er auch diese Tiere streicheln, das wusste er genau. Sie gefielen ihm doch so gut! Und obwohl die beiden Kinder unterschiedliche Interessen zu haben schienen, waren sie doch gute Freunde - und das sollte sich auch niemals ändern.

Südtiroler Problem 5 - Trautes Heim, Glück allein? Onde histórias criam vida. Descubra agora