Träume

9 1 1
                                    

Die Wochen gingen ins Land. Wir hatten Mániëronté bei Hédrian und seiner Familie bestattet, die letzten Endes auch zu ihrer Familie geworden waren.

Viele Menschen, noch viel mehr als bei Hédrian, waren gefolgt, und Médancon hatte die Totenklage gesungen. Seine Stimme hatte sich kristallklar in die Luft erhoben. Ich hatte meine Augen geschlossen, und fast hatte ich geglaubt, dass es ein überirdisches Wesen sei, das diese Melodie hervorzauberte.

Meine Wangen waren feucht vor Tränen, was nur teilweise meiner Trauer um die Verstorbene geschuldet war. Ich weinte auch aufgrund der unbeschreiblichen Schönheit seines Liedes.

Es war das letzte Mal, dass ich ihn singen hörte.

Danach hatte er sich wie in Verrückter in Arbeit geflüchtet. Er war in Hédrians Haus eingezogen, das dankenswerterweise noch leer gestanden hatte, und baute, strich oder gärtnerte wie besessen in jeder freien Minute.

Wir sahen ihn in dieser Zeit selten.

Einerseits war ich darüber betrübt, da ich ihn schmerzlich vermisste, andererseits war ich irgendwie erleichtert, denn nach dem Vorfall an der Laube konnte ich ihm überhaupt nicht mehr unbefangen gegenübertreten.

Ebenso wie Médancon, versuchten auch Álkaran und ich zu vergessen. Ab und zu fuhren wir gemeinsam aufs Meer hinaus. Aber unsere Unbekümmertheit war verschwunden.

Es bebte wiederholt, doch das tägliche Arbeitsleben in Éngin-Doloh blieb davon unberührt. Wir stellten allerdings fest, dass zunehmend mehr Menschen Aën-Sangaa beiwohnten, als ob sie die Erde dadurch milde stimmen wollten.

Zu den Männern, die Mániëronté verschleppt hatten, gab es keine Spur, und Frauen und Mädchen waren vorsichtig geworden. Niemand wollte mehr allein über Land gehen. Grésto hatte mit ihren Helfern versucht, Licht ins Dunkel zu bringen. Die Anstrengungen waren ergebnislos verlaufen, und sie hatten nicht einmal die Höhle gefunden, in der man Mániëronté gefangen gehalten hatte.

Überhaupt war Grésto in diesen Tagen stark gefordert. Durch meine morgendlichen Dienste in ihrem Haus erfuhr ich, dass sie mit Vanícana und Céneront lange, intensive Beratungen, vermutlich wegen der Erdstöße, hielt.

Das Fest der großen Sonnenwende nahte langsam heran.

Und mein Körper veränderte sich. Meine Regelblutung war versiegt, meine Brust spannte, und mir war morgens öfter etwas übel. Obendrein hatte ich einen immensen Appetit nach Sauerkraut entwickelt, ein Gericht, das es in Cóno-Aleea nicht gab, und das ich zwischenzeitlich fast vergessen hatte, da ich es eigentlich nie besonders gemocht hatte.

Meisterin Ýdrané persönlich bestätigte nach einer Untersuchung meinen Verdacht: Ich erwartete ein Kind.

Obgleich ich den Gedanken selbst bereits gehegt hatte, war ich dennoch durch die Bestätigung perplex. Ich rechnete nach, wann die Empfängnis voraussichtlich stattgefunden hatte, denn in den Tagen nach Mániërontés Tod war mein ganzes Leben wie auf den Kopf gestellt gewesen.

Erst jetzt im Rückblick fiel mir auf, dass meine Blutungen in dieser Zeit erstmalig ausgeblieben waren. Damit konnten sowohl Álkaran als auch Médancon der Vater sein.

Ýdrané war eine kundige Frau und bemerkte meinen Zwiespalt sofort.

„Möchtest du dein Kind denn bekommen?", fragte sie und sah mir voller Empathie mit ihren schwarzen Knopfaugen ins Gesicht.

Ich blickte sie verwundert an.

„Wir haben Tränke", fuhr sie fort, „mit denen wir in diesem frühen Stadium verhindern können, dass ein Kind geboren wird, sofern es nicht erwünscht ist oder eine Geburt für die Mutter gefährlich wäre."

Kántarellas LichtgestaltenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt