Heilende Hände

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Die Rückfahrt verlief ruhig und ohne Besonderheiten. Hédrian erzählte uns, dass auch Vanícana und Céneront über die Beben nachdachten. Gleichwohl waren sie zusammen mit den anderen ihrer Zunft übereingekommen, die Entwicklung weiterhin lediglich zu beobachten, da die Beben zwar nachweislich häufiger auftraten, sich aber harmlos und mild gestalteten.

Dies wollte Hédrian sofort Grésto mitteilen, obwohl er schon sichtlich erschöpft war. Er blieb stur und ließ es sich nicht ausreden. Wir stiegen daher am Grésto-Haus aus, das eines der größten und imposantesten Häuser der Stadt war, wie ich mittlerweile im Vergleich mit den anderen Gebäuden in Éngin-Doloh erkannt hatte.

Álkaran verabschiedete sich, um das Fuhrwerk zurückzubringen. „Sehe ich dich nachher zu Aën-Sangaa?", fragte er mich mit einem Lächeln und schaute mir direkt in die Augen.

„Ja, gerne", bejahte ich, den Blick haltend.

Die Aussicht auf eine weitere Gesellschaft mit ihm gefiel mir.

Ich begleitete Hédrian ins Haus, wo er sich verabschiedete, da er allein mit Grésto sprechen wollte. Um etwas auszuruhen, zog ich mich in mein Zimmer zurück. Ich erfrischte mich und legte mich noch für eine kleine Weile nieder.

Wohlweislich hatte ich den Wecker gestellt. Sein Glockenton drang in den Schlummer, dem ich anheimgefallen war. Es war kurz vor dem Abendessen. Ich ordnete meine Kleider und zähmte mein Haar. Zum ersten Mal betrat ich den Essenssaal allein.

Álkaran war schon eingetroffen und winkte mir zu. Er gestikulierte: Ich sollte mich neben ihn setzen, was ich gern tat.

Wir sprachen über den Tag. Etwas fiel mir ein. „Hédrian", fragte ich, „hat er denn keine Kinder?"

Ein Schatten trat über Álkarans sonst so frohe Züge. „Hédrians Frau ist früh gestorben. Er hatte nur einen Sohn, D'arkaït, den er über alles liebte. Dieser gründete eine Familie, und Hédrian bekam drei Enkel, zwei Mädchen und einen Jungen, mit denen er viel Zeit verbrachte. Die jüngere Enkeltochter, Naëlliëra, freundete sich eng mit einer gleichaltrigen Waise aus dem nahen Kinderhaus an. Médancon und ich kannten Hédrians Enkel gut, denn wir sahen uns oft ..." Er schwieg kurz. Er sah traurig aus.

Bevor ich etwas sagen konnte, sprach er weiter: „An einem Tag brachen alle sechs, D'arkaït, seine Frau, die drei Kinder und Naëlliëras Freundin, zu einem Ausflug auf. Ziel war ein kleines Dorf, in dem es das beste Tuch weit und breit gibt. Médancon und ich wären gern mitgefahren, aber wir passten nicht mehr ins Gefährt hinein.

Um es kurz zu machen – die Erde bebte plötzlich sehr stark, ein Baum stürzte um und begrub alle unter sich bis auf die Freundin von Hédrians Enkeltochter, die aus dem Wagen geschleudert und später schwer verletzt geborgen worden war.

Von diesem Verlust hat sich Hédrian nie erholt, auch wenn er es inzwischen sehr gut überspielt. Auch wir waren damals voller Trauer, denn wir hatten unsere Freunde verloren. Hédrian hat das verletzte Mädchen wie eine Tochter aufgenommen, seine beste Heilkunst bei ihr angewandt und ihr alles beigebracht, was er weiß. Das hat aus ihr eine der hervorragendsten Heilerinnen gemacht, die Éngin-Doloh je hatte."

Ich schwieg, denn ich ahnte genau, wer dieses Mädchen war.

Nach dem Essen brachen wir allesamt auf, um Aën-Sangaa beizuwohnen. Wie beim letzten Mal versammelten wir uns auf dem großen Platz und lauschten den Darbietungen. Weder sang Médancon heute, noch sah ich ihn, obwohl ich in der Menge nach ihm ausspähte.

Als die Zusammenkunft endete, verabschiedete ich mich von Álkaran und dankte ihm für seine Gesellschaft und den spannenden Tag.

„Auch mir war es eine Freude", sagte er, umfasste meine Hände und hielt sie für einen kleinen Moment. Dann ließ er sie los, wandte sich um und ging, ohne sich umzusehen.

Kántarellas LichtgestaltenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt