Fischmesser

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Als ich später in Hédrians Haus auf meiner Schlafstatt lag und zur Ruhe kam, traf mich die doppelte Enttäuschung mit voller Wucht.

Médancon hatte nicht gesungen, obwohl ich mich so sehr auf sein Lied gefreut hatte.

Das aber war das kleinste Übel in meiner verwirrten Gefühlswelt: Er hatte Álkaran anvertraut, dass er sich mit Mániëronté fest verbunden hatte.

Ich hatte daneben gesessen und alles angehört. Die Kunde hatte mich wie ein Faustschlag in den Magen getroffen, und den Rest des Abends hatte ich verzweifelt darum gerungen, meine Fassung zu wahren: Meine heftige Sehnsucht nach Médancon würde nun für immer unerfüllt bleiben.

Obwohl ich Álkarans Zuneigung erwiderte und ihm ehrlich zugetan war, stand ich völlig unter dem Bann seines Bruders, als ob ich eine Motte sei, die auf ein Leuchtfeuer zuflog: hilflos hin und her trudelnd und unausweichlich.

Álkaran hatte das Paar nach der Ankündigung stürmisch umarmt, und ich hatte den beiden freundlich lächelnd, so herzlich wie ich nur konnte, gratuliert, obwohl mir unglaublich übel war.

Mániëronté hatte mir glücklich und voller Überschwang für die guten Wünsche gedankt und mich beschwingt an sich gedrückt. Médancon hingegen hatte mich nur mit knappen Worten und einem kurzen Händedruck bedacht.

Trotz meines Kummers hatte es sich wieder angefühlt, als ob heiße Funken von seiner Handfläche in die meine sprängen, und mein ganzer Arm hatte zu vibrieren begonnen.

Bildete ich es mir ein, dass er meine Hand etwas länger als nötig gehalten hatte? War sein ernster Blick wirklich mit einer unausgesprochenen Frage direkt auf meine Augen gerichtet gewesen? Hatte es sich einfach darauf bezogen, ob ich seinen Bruder ebenso glücklich machen konnte, wie er es selbst mit seiner künftigen Gefährtin war?

Es war eine ähnliche Situation wie schon heute Morgen gewesen, und ich konnte keines der beiden Ereignisse richtig zuordnen, zumal ich zu glauben geneigt war, dass alles nur in meiner Phantasie stattgefunden hatte.

Ich zog die Bettdecke über den Kopf. Der Schlaf wollte nicht kommen.

Am nächsten Morgen fühlte ich mich weder frisch noch ausgeruht. Irgendwann war ich endlich eingeschlafen. Mein Schlaf war unruhig und voller unangenehmer Träume gewesen, in denen große, hässliche Vögel ohne Federkleid nach mir hackten, die Erde unter ihren grauen, faltigen Krallen beben ließen und Schiffe im aufgewühlten Meer versenkten.

Hédrian hatte mich ausschlafen lassen, etwas, das ich seit meiner Ankunft in Éngin-Doloh nicht mehr getan hatte, und sich bereits leise ein Morgenmahl gerichtet. Ich durchlief die nötigste Morgenroutine und aß lustlos ein paar Bissen.

„Wo ist dein Lachen, meine Liebe?", fragte Hédrian, dem meine schlechte Stimmung nicht entgangen war.

„Vielleicht ist es im Regen untergegangen", antwortete ich unwirsch.

Im nächsten Moment tat mir die flapsige Antwort leid, und ich entschuldigte mich dafür, denn ich schätzte Hédrian sehr, und er war unschuldig an meinem Liebeskummer. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen.

„Ich vermisse mein Fischmesser", sagte Hédrian plötzlich. „Kannst du mir bitte einen Ersatz holen? Am besten gehst du zu Álkaran, denn Gréstos Haus wird verschlossen sein."

Obwohl mir klar war, dass es sich um einen Vorwand handelte, um mich auf andere Gedanken zu bringen, mochte ich Hédrian keinen Gefallen abschlagen und brach zum Fischerhäuschen auf.

Der Himmel war klarer als am Vortag. Etwas Blau blitzte durch die schnell vorbeiziehenden Wolkenfetzen. Die Luft war rein, salzig und trug eine leichte Kühle in sich. Eine kräftige Brise wehte mir vom Meer entgegen. Der Wind hatte die Wege getrocknet. Es schien, als ob alles frisch und neu sei.

So früh am Tag war die Stadt durch die Feiertage bar der üblichen Geschäftigkeit. Außer mir war kaum jemand auf den Straßen unterwegs.

Mein Kopf wurde freier, während ich in Richtung Hafen trabte.

Ich musste zwei Mal an die Tür des Fischerhauses klopfen, bis Álkaran öffnete. Er sah verschlafen aus und hatte sich hastig etwas übergeworfen, wie es schien, denn er hielt mit der Hand den Gürtel zusammen. Erstaunt sah er mich an.

„Kántarella, was führt dich so früh zu mir?" Ein frohes Lächeln erhellte sein Gesicht. „Bitte, tritt ein!"

Er bat mich um ein bisschen Geduld und verschwand rasch im Nebenzimmer. Als er nach einer kurzen Wartezeit wieder zu mir trat, war er erfrischt und komplett angekleidet.

„Habe ich dich geweckt?", fragte ich zerknirscht.

„Es ist nicht schlimm", beruhigte er mich. „Ich war schon wach. Du musst wissen, zur kleinen Sonnenwende hat fast niemand Pflichten, und wir tun nur das Nötigste. Wir sorgen uns in diesen Tagen viel um uns selbst und halten innere Zwiesprache."

Ich nickte verständig.

„Hédrian schickt mich", hub ich nach einer kurzen Pause an. „Könntest du ihm ein Fischmesser leihen?"

Álkaran sah mich verwundert an: „Hat er keines mehr? Ich hatte ihm erst von wenigen Monden drei neue Messer gebracht ..."

„Jedenfalls hat er keines gefunden", murmelte ich ausweichend.

Álkaran ging zur Kochstelle und griff zielsicher in ein Regal. „Hier, bitte." Er reichte mir ein großes, blitzendes Messer.

Ich wollte es nehmen, da besann er sich anders und zog es noch einmal zurück. „Warte, ich wickle es lieber ein."

Er griff ein Stück Tuch. Während er die scharfe Schneide sorgfältig einpackte, fragte er: „Wenn du Hédrian das Messer gebracht hast, was wollen wir heute beginnen? Oder möchtest du den Tag mit Hédrian verbringen?" Letzteres klang ein bisschen verzagt.

Ich gab mir Mühe, ein aufmunterndes Lächeln zustande zu bringen. „Lass uns gern heute zusammenbleiben", stimmte ich zu.

Ein wenig Ablenkung würde mir sicher guttun. Allein in Hédrians Gesellschaft würde ich zu sehr ins Grübeln kommen, das war mir bewusst.

„Schlag etwas vor!", sagte ich so munter, wie ich nur konnte.

Nur wenig später standen wir vor Álkarans Boot. Der Himmel hatte weiter aufgeklart, und der Wind war milder geworden. Álkaran hatte mir versichert, dass wir gut würden segeln können. Die Wetterprognose sei für den Festtag insgesamt recht freundlich.

Gemeinsam hatten wir zuvor das Messer abgegeben. Hédrian hatte sich gefreut, uns zusammen zu sehen, und er hatte uns viel Freude an diesem Feiertag gewünscht.

Auf Álkarans Rat hatte ich vorsichtshalber trockene Kleidung zu einem Packen geschnürt, und wir waren zum Hafen aufgebrochen.

Nun verstauten wir unsere Bündel nebst einigen Vorräten in einem der Körbe am Mast. Kurz danach brachte Álkaran das Boot stakend aus der Bucht heraus und setzte das Segel. Da er der See nicht ganz traute, hatte er mich wieder am Mast gesichert, damit ich auf jeden Fall an Bord blieb.

„Was ist, wenn das Boot kippt?", hatte ich gefragt. „Dann gerate ich unter Wasser und ertrinke!"

„Das wird nicht geschehen!", hatte er erwidert und mich lächelnd angesehen. „Solange ich am Ruder bin, wird das Boot niemals umschlagen. Vertrau mir."

Kántarellas LichtgestaltenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt