Blaubeersaftdrachenkarte

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Mit einem lauten Jauchzer stürzte Nora durch das Geäst des Baumes, der neben dem Abhang stand, hangelte sich an den größeren Ästen bis zum Stamm entlang und kam mit einem dumpfen Schlag mit beiden Beinen auf dem erdigen Untergrund auf. Dann sah sie nach oben, dorthin, wo einzelne Sonnenstrahlen das Blätterdach durchbrachen. Dort, wo eigentlich auch Mika auftauchen sollte, ihr Zwillingsbruder. Sie legte die Hände an den Mund und rief: "Hey Mika, wo bleibst du denn?"

Von weiter oben hörte sie nur einen Fluch. "Au! Tut mir – aua – leid. Aber ich bin – aua – nicht so schnell." Dann plumpste er neben ihr auf den Boden und landete auf seinem Po. Dreck und Staub wirbelten auf und Nora roch den erdigen Duft des Waldes. Oh, wie sie den liebte. Mika musste niesen. Wäre er nicht schon sieben Jahre alt gewesen, hätte er in seiner blauen Latzhose und mit der Rotznase wie ein Baby ausgesehen, das im Dreck spielte. Sie wuschelte ihm durch die braunen Locken und zog die Karte aus der Brusttasche ihrer eigenen Latzhose.

"Gib mal den Kompass her, wir müssen schauen, wo wir jetzt lang müssen."

Sie ging in die Hocke und faltete die Karte auf. Sie war selbstgemalt. Braune Linien durchzogen liebevoll gezeichnete Baumwipfel und Felsen. Irgendwo im Westen befanden sich die Ausläufer der kleinen Stadt, in der sie lebten, und im Osten, tief im Wald, ein rotes X. So tief im Wald, wie sie noch nie gegangen waren. Dort, wohin sie eigentlich auch nicht gehen durften. Wenn es nach ihren Eltern ging, zumindest.

Ihr Großonkel sah das anders. Von dem stammte die Karte, er hatte sie gezeichnet. Sie war vergilbt und an ein paar Stellen hatte sie Löcher, die so groß waren, dass Nora den kleinen Finger hätte hindurchstecken können. Als sie ihn am Wochenende besucht hatten, hatte er behauptet, dass er sie schon als Kind gezeichnet hatte. Damals, als er noch hier lebte.

"Drachen!", gluckste Mika neben ihr und grinste breit. "Meinst du, dass da beim Kreuz wirklich Drachen sind?"

"Wir werden es herausfinden und wenn es das Letzte ist, was wir tun!", behauptete sie mit gerecktem Kinn.

Zumindest stand neben dem X in Blockbuchstaben: 'Hier sind die Drachen!' Der Text war mehrmals nachgezeichnet worden, ganz als ob es wahrer wurde, wenn die Schrift dicker war.

Er war irgendwie anders als sonst gewesen. Nicht so ernst, mehr wie ein Kind. Mehr wie sie selbst. Hatte sie gefragt, ob sie an Drachen glaubten. Mika hatte er damit sofort gehabt. Seine Augen leuchteten bei der Geschichte von Onkel Benjamin, wie er sich einmal hier im Wald verirrt und dabei selber einen Drachen getroffen hatte. Und zu diesem Ort waren sie jetzt unterwegs. Nora war es egal, ob es dort wirklich Drachen gab, aber wenn die Suche nach ihnen eine Ausrede lieferte, um wieder mal im Wald zu verschwinden, war sie dabei.

Mika löste den Kompass von seinem Abenteurergürtel, legt ihn auf die Karte und Nora richteten sie nach Norden aus. Das hatten sie mit Onkel Benjamin geübt, bevor er ihnen die alte Karte und den Kompass anvertraute. Der war mindestens genauso alt und rostete schon an den Ecken. Kein Wunder, es musste ja schon mindestens hundert Jahre her sein, dass ihr Onkel so alt gewesen war, wie sie jetzt.

"Hmm ..." Nora legte den Zeigefinger an ihre Wange, dann knabberte sie an ihrer Unterlippe. "Wir müssten ungefähr hier ..."

"Wir sind genau da", unterbrach Mika sie und stieß mit dem Finger an eine Stelle, an der diese Höhenlinien eingezeichnet waren. Die Dinger, die anzeigten, dass es irgendwie rauf oder runter ging.

"A-ha", machte Nora vollkommen unbeeindruckt. Ja, sie waren Zwillinge und doch waren sie so unterschiedlich. Er war derjenige, der sich alles merken konnte und sie war die, die mutig voraus rannte, während er sich noch überlegte, wie er am besten kletterte, damit seine Hose auch ja kein Loch bekam.

GetränkedrachenWhere stories live. Discover now