Teedrachengeheimnis (1)

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Der Schlüssel drehte sich quietschend im Schloss und Herrn Ti schlug eine Welle trockenen Teedufts entgegen. Vor seinem kleinen Laden rauschten die Kastanienbäume im Wind, der sich wohl bald zu einem kleinen Herbststurm steigern würde. Jetzt stand er auf der Schwelle zwischen zwei Welten. Hinter ihm die, die sich vom dreifarbigen Herbst bald in einen grauweißen Winter wandeln würde. Vor ihm sein neu erobertes Reich, in dem er der Tristesse seines eigenen Lebensabends entfliehen wollte.

Herr Ti seufzte. Er war allein. Nach all den Jahren wieder. Die Kinder in der Welt verteilt und seine Frau genoss ihre letzte Ruhe neben der alten Kirche, deren Turmuhr gerade 8 Uhr schlug. Er solle sich eine Beschäftigung suchen, hatten sie gesagt und so hatte er sich mit diesem Teeladen einen Herzenswunsch erfüllt, den er früher nie gewagt hätte. Bald würden Besucher diese Räume mit ihm teilen, in einer der stillen Ecken ihr Getränk genießen. Gemeinsam oder zusammen mit einem Buch. Er würde zufrieden seinen Blick über die glücklichen Kunden schweifen lassen und ... selbst immer noch alleine sein. Er wippte auf der Türschwelle, setzte zögerlich einen Fuß auf die hölzernen Bodendielen und sie knarzten. Er ließ das Geräusch auf sich wirken. Dann quietschten sie.

Moment! Herr Ti zog eine Augenbraue hoch, stemmte die Fäuste in die Seite und sah den Boden mit mahnendem Blick an. "So sollten Bodendielen nicht quietschen", murmelte er. Er hob seinen Fuß wieder und wie er so in der Luft schwebte, quietschte es erneut. Von wo kam dieses Geräusch denn? Vom Boden jedenfalls nicht. Da quietschte es ein drittes Mal.

"Aha!", rief er triumphierend und drehte sich um. Seine Ohren funktionierten noch ganz gut, auch wenn es dem Rest seines Körpers nicht anders als den knarzenden Dielen erging. Er ließ den Blick über das Kopfsteinpflaster vor dem Laden wandern und entdeckte die Quelle. Der Gullydeckel am Rande der T-Kreuzung.

Waren das leuchtend rote Augen, die ihn von dort unten, durch die gusseisernen Streben hindurch anstarrten? Eines der Monster aus der Mythologie seiner alten Heimat? Es stieß einen weiteren Quieker aus, der so herzerweichend war, dass Herrn Ti beinahe die Tränen kamen. Nein, so konnte kein Monster schluchzen.

Wacklig, dank der Steine und seiner Beine, ging er auf den Gullydeckel zu und beugte sich hinab. Der Rücken protestierte. Dann beugte er sich eben nicht und ging stattdessen in die Knie. Zehn Zentimeter weit, denn weiter kam er nicht, und streckte seine Hand aus. "Komm raus", sagte er sanft. "Also, solange du keine Ratte bist."

Das Wesen quietschte, diesmal empört, traute sich aber aus seinem Versteck hervor. Was war denn das? Wenn das eine Ratte war, dann aber eine ganz schön pummelige. Die Form des Bauches erinnerte ihn ein wenig an seinen eigenen. Trotzdem, Ratten hatten in der Regel keine Flügel, oder? Und diese Farbe, was war das? Erdbeereisteerosé? Ein wenig erinnerte ihn diese Ratte, die ja keine war, an einen Drachen. Nicht an die ehrwürdigen Kreaturen aus seiner alten Heimat, sondern an die, wie sie die Kinder heutzutage hier im Fernsehen zu sehen bekamen. Zu dick, als dass ihre Flügel sie wirklich in die Luft tragen konnten. Und doch ...

Der kleine Drache begann wild zu flattern und erhob sich in die Luft. Hinauf, bis zu seinen Schultern, dann schoss er an ihm vorbei, auf den Teeladen zu.

"Hey, warte auf mich, kleiner Freund", rief Herr Ti, stemmte sich die zehn Zentimeter, die er in die Hocke gegangen war, wieder hoch und wackelte dem Drachen, so schnell er eben konnte, hinterher. Als er die Schwelle seines Teeladens überquerte, war das Gefühl der Einsamkeit vergessen. Vielmehr war er sich sicher, dass ihm aufregende Zeiten bevorstanden.

Das Klirren der Teetassen bestätigten diese Befürchtung.

GetränkedrachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt