Montag, 16. August 2021

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Ein wenig bedenklich finde ich es schon, dass immer erst kleinere und größere Katastrophen in mein Leben stürzen müssen, bevor ich mir eine Auszeit gönne. Kleinere Katastrophen: eine Blinddarmentzündung, ein Beinbruch, eine Erkältung, eine Grippe, Blitzeis, Starkregen, Blitz und Donner. Größere Katastrophen: Hurrikane, Hochwasser, Erdbeben, Vulkanausbruch, Meteoriteneinschlag, Krieg, Corona. Kleines Quiz am Rande. Was davon habe ich selbst schon erlebt? So gut wie nichts. Bis auf die Erkältung, das Blitzeis, Starkregen, Blitz und Donner und, na klar, Corona mit allem was dazu gehört (Lockdown, Quarantäne et cetera). Schon als Kind habe ich mir gewünscht, einmal im Krankenhaus liegen zu dürfen. Besuch zu bekommen, bemitleidet und umtüddelt zu werden. Lesen dürfen so viel und so lange man kann. In der sechsten Klasse hat Sabine sich den rechten Arm gebrochen. Sie trug einen Gips, konnte nicht schreiben. Die Lehrer haben alles für sie erledigt. Wir haben auf ihren Arm gemalt. Haben unsere Namen darauf geschrieben. Das wollte ich auch mal erleben. In der achten Klasse hat Matthias eine Rolle über einen Kasten versucht. Schwung übers Trampolin, hoch in die Luft, Beine angezogen, zack, knochige Knie an den Schädel, krumme Landung auf der Matte, Gewimmer. Diagnose: Schwere Gehirnerschütterung. Zwei Wochen Auszeit im Krankenhaus. Bettruhe. Ich habe ihn besucht, natürlich. Er war mein Freund. Da fällt mir ein, dass er in der zweiten Klasse mal mit seinem Schlafanzugoberteil in die Schule kam und es erst bemerkte, als das allgemeine Gelächter schon im vollen Gange war, aber das ist eine andere Geschichte. Auf dem Nachttisch lag ein Riesenstapel Bücher, viele anspruchsvolle Titel, viele davon mit weit über 600 Seiten (darunter das Foucaultsche Pendel von Umberto Eco, das ich bis heute nicht gelesen habe) und ich habe mich gefragt wie man all diese hochintellektuellen Schinken mit einer kaputten Birne lesen kann. Naja, dachte ich. Matthias Vater ist Lehrer, seine Mutter ist Lehrerin, sie spielen Klavier und gefühlte dreißig weitere Instrumente, essen nur selbstgebackenes Brot und Müsli aus der eigenen Handmühle. So jemand muss schlau sein und schafft es eben spielerisch, 3000 Seiten mit Matschhirn in sich reinzuschaufeln. Faszinierend. Sabine mochte ich damals übrigens sehr. Sie lud mich immer zu ihren Geburtstagen ein. Auch sie las dicke Bücher. Ein zerlesenes Exemplar von Stephen Kings ES lag über lange Zeit auf dem Teppich ihres Dachzimmers. Ich schlug es hier und dort auf, las mal diesen, mal jenen Satz, fand das ganze am Ende jedoch zu langatmig und schob es zur Seite. In Sabines Zimmer roch es immer nach nassem Hund und wenn ich mich recht erinnere, hatte sie auch einen Hund. Einen kleinen freundlichen mit speckigem Fell. War es ein Rauhaardackel? Er ist mir nicht besonders positiv in Erinnerung geblieben. Auch die Mutter und der Vater waren speckig oder verwechsele ich da was? Wahrscheinlich. Sabine jedenfalls war gehrtenschlank und hatte eine lustige knubbelige Nase. Was besonderes. Mit vierzehn habe ich sie dann zum Geburtstag eingeladen und sie war schließlich diejenige, die nach dem Kaffeetrinken genervt fragte: »Uuuuund? Was machen wir jetzt?« Ich hatte keinen Plan. Seit diesem Tag habe ich nie wieder Freunde zum Geburtstag eingeladen. Das ist bis heute so geblieben. Ein bisschen traurig und eventuell ein Grund, sich mal auf eine Therapeutencouch zu legen.
Ich will mich nicht beschweren. Zum Glück musste ich bisher nie wegen schwerwiegender Ereignisse ins Krankenhaus eingeliefert werden, aber ich war schon mal da! Zur Geburt. Und als ich mir im Kindergarten an Brian Fischers Hand den Mittelfinger stauchte (wir haben uns mit ausgestreckten Armen im Kreis gedreht und jedesmal gejuchzt wenn unsere Hände sich klatschend berührten, bis auf dieses eine Mal). Zum Glück war meine Mutter Kinderkrankenschwester und arbeitete in einem Krankenhaus, das in Sichtweite des Kindergartens lag. Ein Anruf genügte und sie holte mich ab. Untersuchung, Röntgen, Verband und zurück in den Kindi. So war das damals. In der fünften Klasse wurde ich auf dem Schulweg von einem schwarzen, verblödeten Pudel, von dem ich annahm er sei lieb, in die Hand gebissen. Riesengeschrei. Heulend zur Grundschule. Anruf im Spital. Krankenwagen. Winkende Mitschüler. Ab ins Hospital, wo meine Mutter mich bereits erwartete. Tätanusimpfung in den Pöter. Viel brennendes, orangeleuchtendes Jod auf die zerfetzten Finger, leuchtend-weißer Verband. Musste ich zurück in die Schule? Ich denke schon. Dann mit zwölf eine Stopfnadel im Fuß, die so tief eingedrungen war, dass sie von Außen unsichtbar blieb. Meine Mutter tippte auf einen Zehbruch. Erstmal schlafen. Wir sehen morgen weiter. Am nächsten Tag noch immer höllische Schmerzen, ein tierisches Stechen im Fuß. Ab ins Hospital. Auf dem Röntgenbild sah man deutlich die Nadel mit Spitze und Öse. »Die suche ich schon seit Tagen!« könnte  meine Mutter gesagt haben. Hat sie aber wahrscheinlich nicht. Örtliche Betäubung, Tuch mit Loch drüber, schnipp schnipp, Nadel draußen, Schmerzen weg. Ich hätte den Arzt knutschen können. Auf der Fahrt nach Hause überlegte ich gemeinsam mit meiner Mutter, was ich ihm zum Dank schenken könnte. »Der verdient genug Geld!« könnte meine Mutter gesagt haben. Das Thema Dankesgabe war danach passé. Was mit dem schwarzen Pudel passiert ist, frage ich mich übrigens bis heute. Hat er noch andere Kinder vor mir und nach mir gebissen? Hätten meine Eltern den Besitzer informieren müssen? Hat man damals nicht für wichtig erachtet. Hauptsache der Junge hat's überlebt und musste nur ambulant ins Krankenhaus. Schade.

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