𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟏𝟖

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[Chrollos PoV.]


"... und das war vor drei Tagen?"

Chrollo runzelte die Stirn. Nachdem er seine Recherche über die Familie de Rune abgeschlossen hatte, hatte er seine zugegebenermaßen spärlichen Ergebnisse (denn das kam davon, wenn man auf legalem Wege vorgehen musste) mit Haru teilen wollen, erfuhr dann jedoch von Phinks, dass sie schon seit einigen Tagen nicht mehr bei ihm aufgetaucht und sich auch sonst nicht gemeldet hatte.

Eigentlich war Chrollo nicht der Typ Person, der sich dafür interessieren würde, wo sich die Mitglieder der Truppe während ihrer freien Zeit aufhielten, denn solange sie keine Befehle hatten, konnten sie auch keine Befehle missachten, doch war die Sache bei Haru ein wenig anders.

Zum einen war sie weder ein vollwertiges Mitglied, noch frei von einem Auftrag; schließlich war Chrollo gewillt gewesen (auch, wenn er dies wohl nie laut ausgesprochen hatte) ihr noch eine weitere Chance zu geben, besonders, da er großes Potential hinter ihrem Nen vermutete. Schon als er damals in der Halle zum ersten Mal gesehen hatte, wie dieses zierliche, beinahe unscheinbare Mädchen Nobunaga ohne äußerlich erkennbare Mühe und mit einer ihm völlig unbekannten Methode ausgeschaltet hatte, hatte er mehr über ihre Fähigkeiten erfahren wollen.

Zu dem Zeitpunkt hatte er zwei Möglichkeiten gesehen, die jeweils etwas für sich hatten: Entweder würde er sie zu einem Mitglied der Spinne machen, oder er würde ihre Fähigkeit auf seine ganz eigene Art und Weise an sich bringen. Und je mehr er im Verlaufe der Zeit über sie erfahren hatte, desto stärker war der Wunsch in ihm geworden, ihr Nen in seinen Besitz über gehen zu lassen. Eine Aura, die nicht den Körper, sondern den Geist angriff...

Obwohl Chrollo auf dem Gebiet des Nens so versiert war wie kein zweiter, hatte er von dieser Technik vorher noch nie gehört, geschweige denn, sie jemals in Aktion gesehen. Und doch schien es das Schicksal so zu wollen, dass er eines schönen Sommertages wie durch Zufall mitten auf der Straße darauf stoßen sollte.

Nun glaubte Chrollo nicht an Zufälle. Er war überzeugt davon, dass er Haru, beziehungsweise ihrem Nen, aus einem ganz bestimmten Grund begegnet war. Um so misstrauischer war er nun, als er erfuhr, dass sie scheinbar ohne ein Zeichen verschwunden war.

Nachdem er mit Phinks gesprochen hatte, hatte er sich bei den restlichen Mitgliedern der Spinne nach Harus Verbleib erkundigt und schließlich von Aiko erfahren, dass dieser vermutlich der letzte gewesen war, der sie gesehen hatte.

Und so kam es nun, dass Chrollo bei Aiko und Shalnark, der mittlerweile zu den beiden dazu gestoßen war, in der Wohnung stand und sich die Geschichte von Harus Bitte anhörte.

„Es war eine wirklich spontane Angelegenheit." Aiko zuckte mit den Schultern, als er Chrollo wiederholt von dem Abend vor drei Tagen erzählte. „Haru ist hier aufgeschlagen, es war vielleicht gerade 7:00 Uhr, und hat gefragt, ob ich ihr noch einmal mit ihrem Nen helfen könnte. Das habe ich natürlich gern getan und es scheint auch funktioniert zu haben, zumindest hat sie danach tief und fest geschlafen. Aber am nächsten Morgen war sie plötzlich verschwunden. Und, ach ja, dieses Buch hier hat sie dabei wohl vergessen."

Aiko überreichte Chrollo die Kopie von Jacints Tagebuch aus der Bibliothek und als dieser schon darin blättern wollte, um eventuelle Hinweise zu finden, mischte sich Shalnark mit in das Gespräch ein: „Aiks, du hast den wichtigsten Teil der Geschichte vergessen. Oder zumindest hast du sie mir anders erzählt."

Aiko seufzte innerlich, natürlich konnte Shalnark seine Klappe nicht halten. Eigentlich hatte er gehofft, diesen Teil vor dem Anführer der Spinne... nun, nicht verbergen, dafür aber ignorieren zu können, denn wenn er ehrlich war, war es ihm beinahe peinlich, davon zu berichten. Doch als Aiko in Chrollos ausdrucksloses Gesicht sah, wusste er, dass es für ihn wohl keinen Weg drum herum geben würde.

„Naja, ich bin mir eigentlich nicht sicher, ob das Eine etwas mit dem Anderen zu tun hat, aber seltsam war diese Begebenheit trotzdem." Nervös fuhr er sich durchs Haar und räusperte sich einmal, bevor er mit seiner Erzählung fortfuhr: „Am nächsten Morgen habe ich mich hundsmiserabel gefühlt. Also wirklich richtig, wie soll ich sagen, beschissen. So erging es mir noch nie. Ganz so, als hätte man mich im Schlaf einmal durch den Fleischwolf gedreht, gekaut und wieder ausgespuckt. Aber das Gefühl hielt nicht lange an, vielleicht 10 Minuten maximal. Später habe ich mich dann daran erinnert, dass auch meine Träume in der Nacht zuvor seltsam waren. Mir war, als würde ich mir entgleiten. Als wäre ich da... und in der nächsten Minute nicht mehr."

Chrollo nickte aufmerksam. Er sprach es nicht laut aus, doch deckte sich Aikos Erzählung mit der, die er von Nobunaga erhalten hatte, als dieser ihm vom Gefühl von Harus Nen erzählt hatte. Sie musste etwas über ihr Nen erfahren und es noch in derselben Nacht an Aiko ausprobiert haben. Hatte das, was sie erkannt hatte, sie etwa so sehr verschreckt, dass sie die Flucht angetreten hatte? Oder gab es ganz andere Gründe für Harus verschwinden?

Chrollo konnte es ganz und gar nicht leiden, wenn er, so wie jetzt, völlig im Dunkeln tappte und normalerweise hätte er in einer solchen Situation einfach Feitan gebeten, mit diesem Butler Abate kurzen Prozess zu machen und so an die Informationen zu gelangen, die er so sehr suchte, doch ein letztes Mal wollte er es, Haru zu liebe, ohne Gewalt probieren. Ihr schien etwas an diesen Leuten zu liegen und auch, wenn er ihre Motivation (noch) nicht verstand, so wollte er sie doch verstehen lernen. Die Perspektive dieses Mädchens, die so viel und gleichzeitig nichts zu wissen schien.

Er verabschiedete sich von Aiko und Shalnark und noch während er im Aufzug stand, der ihn wieder nach unten brachte, blätterte er in Harus Buch. Er überflog die Zeilen, las etwas von Kontemplation, Glauben und Religion, bis er schließlich eine kleine Notiz bemerkte, die im Vorwort an den Rand gekritzelt worden war. Es handelte sich um eine hastig mit Bleistift aufgeschriebene Adresse, und als er den dazugehörigen Text genauer untersuchte, fand er heraus, dass sie wohl den Standort eines Museums, das, wie er las, früher einmal ein Kloster gewesen war, angab. Ein Kloster? Was konnte Haru in einem Kloster wollen?

Je mehr Chrollo erfuhr, desto mehr Fragen taten sich auf und je länger er die Fakten in seinem Kopf gegeneinander abwog, desto sicherer war er sich, dass an dieser ganzen Geschichte noch viel mehr dran sein musste, als er ursprünglich vermutet hatte. Durch seine Nachforschungen hatte er erfahren, dass die Familie de Rune tatsächlich schon sehr alt war und als er, nach einigen Mühen, sich manche der Namen der Familienoberhäupter aneignen konnte, war ihm ein Muster aufgefallen: Es hatte einen Jamie gegeben, einen Jonathan, eine Julin, Jerrod und Joan – und als er nun auf den Klappentext des Buches blickte und sah, dass die Schrift Übersetzungen der Memorien eines Mannes namens Jacint waren, fühlte sich Chrollo nochmals bestärkt in seinem Glauben, dass es so etwas wie Zufälle nicht gab.

Ursprünglich hatte er Haru nur berichten wollen, dass es sich bei Jaro und Jacobe wohl auch um ehemalige Familienoberhäupter der de Runes handeln musste, doch so langsam beschlich ihn das Gefühl, dass sie dies wohl schon längst wusste.

Damit wurde die ganze Sache für ihn noch einmal um ein großes Stück interessanter und Chrollos stoische Miene wich einem amüsierten Lächeln.

Und ganz genauso, wie es auch schon bei Haru der fall gewesen war, trugen ihn seine Beine automatisch in Richtung des Bahnhofs.





𝐀 𝐁𝐚𝐧𝐝𝐢𝐭𝐬 𝐒𝐞𝐜𝐫𝐞𝐭 | 𝐂𝐡𝐫𝐨𝐥𝐥𝐨Where stories live. Discover now